Chronik und Ereignisse 1986
Beinahe hätte das neue Jahr mit einem weiteren Erfolg
der USA bei der Eroberung des Weltalls begonnen. Doch es
kam anders. Die Welt musste mit Entsetzen zuschauen, wie
am
28.
Januar 1986 die Raumfähre „Challenger“ kurz nach
dem Start zerbrach. Fünfzehn Kilometer hatte sie sich
schon über die Erde erhoben, da geschah das Unglück.
Sieben Astronauten befanden sich an Bord. Keiner hatte
eine Chance zu überleben. Diese Katastrophe erschütterte
die Menschen zutiefst, nicht zuletzt, weil die
Fernsehanstalten weltweit das Unglück hautnah in die
Wohnzimmer übertrugen.
Es waren nur 73 Sekunden nach dem
Start vergangen, als der Jubel über den gelungenen Start
einer großen Sprachlosigkeit wich. Die Ursache liest
sich banal und sachlich: Dichtungsringe an einer der
Feststoffraketen waren ausgefallen. Die Wirkung machte
die Menschen stumm, nicht aber die Zeitungen. Schuld und
Unschuld waren das Diskussionsthema Nummer eins, ebenso
die Frage, ob man den Start nicht doch hätte verschieben
sollen, wie es der Ingenieur Roger Boisjoly eindringlich
empfohlen hatte. Seine Warnungen waren ungehört
verhallt. Doch nicht nur die Frage nach der
Verantwortlichkeit beschäftigte die Gemüter vorrangig,
sondern vor allem die Tatsache, dass ein riesiger
Schatten auf die Erfolgsbilanz der amerikanischen
Raumfahrt gefallen war. Die Anteilnahme für die
verunglückten Astronauten war groß, doch irgendwann
verblassten die Ereignisse vor dem Hintergrund eines
anderen, das weit nachhaltigere Folgeschäden mit sich
brachte.
In
Europa und vom Rest der Welt beachtet, nahm eine
kleine Stadt in der Sowjetunion den Platz in den
Schlagzeilen ein. Von der Existenz dieser ukrainischen
Stadt, die nördlich von Kiew liegt, hatte die Welt bis
dato keine Ahnung. Bis zum
26. April 1986. Da trat
Tschernobyl aus seiner Namenlosigkeit hervor. Zunächst
war die Meldung über einen Atomreaktor-Unfall eine
Meldung von vielen, denn genaue Mitteilungen wurden noch
streng geheim gehalten. Erst nach und nach sickerten
Informationen an die Öffentlichkeit. Der damalige
Parteichef der KPdSU, Michail Gorbatschow, rief einen
Krisenstab zusammen. Experten wurden an den Ort des
Unglücks entsandt, die den sogenannten Liquidatoren
behilflich sein sollten.
Diese Aufräumarbeiter, die die
Strahlungsschäden eindämmen sollten und dieser
unmittelbar vor Ort ausgesetzt waren, waren zwar um
Liquidation bemüht, konnten der Lage natürlich nicht
Herr werden. Ihr Einsatz war mutig und lebensgefährlich
zugleich. Wer überlebte, wurde mit einer der sofort
erfundenen Liquidations-Medaillen geehrt. Oft waren die
Einsätze nur von sehr kurzer Dauer, denn die frei
gewordene Strahlung war viel zu hoch. Da galt es, den
Ort schnellstens wieder zu verlassen. Viele Liquidatoren
waren nach dem Unglück in Aktion. Zur Medaille gab es
noch 100 Rubel Prämie, doch die Gesundheit war damit
nicht zu bezahlen, erst recht nicht, wieder
herzustellen. Das entsetzliche Ausmaß der
Reaktor-Katastrophe war erst zu erahnen, als ein
automatischer Alarm im Kernkraftwerk Forsmark in
Schweden aufhorchen ließ. Die Entfernung zu Tschernobyl
beträgt 1200 Kilometer! Für die erhöhten Werte der
Radioaktivität lag das sehr dicht. Und auch in
Deutschland begann man schnell zu spüren, wie nahe
dieser Unglücks-Reaktor lag. Vom Winde verweht – diese
Worte bekamen eine völlig neue Bedeutung. Leider. Noch
heute ist das Gebiet um Tschernobyl von einer Sperrzone
umgeben, die eine Ausdehnung von 30 km hat. Dennoch
arbeiten dort Menschen und der Katastrophentourismus
blüht ebenfalls. Unmittelbar am Kernkraftwerk kann man
sich angeblich frei bewegen. Andernorts ist die
Verstrahlung immer noch enorm. Die Wissenschaft ist seit
mehr als zwanzig Jahren dabei, die Folgen des
Strahlen-Unglücks zu untersuchen. Erst heutzutage
beginnt ein Umdenken in Sachen Atomkraft, jetzt, da ein
Super-Gau die japanische Großstadt Fukushima im
Nordosten des Landes heimgesucht hat. Und diese
Atomkatastrophe entstand „nur“ als Folge gewaltiger
Naturereignisse. Doch davon ahnte 1986 noch niemand
etwas.
Denkt man an erfreuliche Ereignisse zurück, dann stößt
man auf zwei große Namen, die eine Sportart fast der
Popularität des Fußball gleichsetzten und für eine
nahezu euphorische Aufmerksamkeit sorgten:
Steffi Graf
und
Boris Becker. Nicht nur das Jahr 1986 ist mit ihren
Erfolgen verbunden, auch die Jahre danach. Voller
Begeisterung fieberten die Deutschen vor den
Bildschirmen mit ihren Favoriten mit.
Steffi Graf gewann
in dem Jahr allein acht Turniere und
1987 begann ihre
ganz großer Erfolgsgeschichte. Sie nahm die Führung in
der Weltrangliste ein. Auch wenn sie heutzutage keinen
Profi-Sport mehr betreibt; der Tennissport wird stets
mit ihrem Namen verbunden bleiben. Sie hatte den ersten
Platz in der Liste der weltbesten Tennisspieler immerhin
337 Wochen inne. Mit so einer Bilanz ist sie die einzige
Tennisspielerin bis heute. Ungefähr zeitgleich machte
Boris Becker auf sich aufmerksam. War er 1986 noch
Juniorenweltmeister und Sportler des Jahres, so folgten
in den späteren Jahren Siege über Siege. Tennis wurde in
Deutschland immer beliebter, auch wenn nicht jeder
derartig spektakuläre Erfolge verzeichnen konnte. Boris
Becker konnte es. Die Weltrangliste führte er zwölf
Wochen in Folge an. Bis heute ist er der jüngste Sieger
in Wimbledon, den es je gab.
Und auch die
Kino-Freunde werden sich gern erinnern, als
„Der Name der Rose“ 1986 in die Kinos kam. Diese
Bernd-Eichinger-Produktion begeisterte fast 6 Millionen
Zuschauer. Vielleicht lag es an der internationalen
Besetzung, allen voran
Sean Connery. Vielleicht lag es
an der hervorragenden Regiearbeit des renommierten
Franzosen Jean-Jaques Annaud. Auf jeden Fall war dieser
Film ein Leinwand-Erlebnis, das die meisten heute noch
gut im Gedächtnis haben. Literaturverfilmungen – in
diesem Fall war es das gleichnamige Buch von Umberto Eco
– sind kein leichtes Unterfangen. Umso schöner, dass
diese Verfilmung gelang. Ähnlich viele Zuschauer zog der
bereits ein Jahr zuvor entstandene Film „Jenseits von
Afrika“ in die Kinosessel. Wenn auch nicht detailgetreu,
so doch mit Marilyn Streep und Robert RedFord hochrangig
besetzt, hatte der Film genügend Potenzial und war eine
echte Verlockung. Es kam zwar nicht gleich zu einem
Reise-Run, aber ein Kino-Run ist ja auch ein schöner
Lohn für die Mühen der Dreharbeiten. Unglaublich, dass
diese Filme schon so „alt“ sind. Aber wahr!
Highlights musikalischer Art bringen die
80er Jahre auf
andere Weise in die Erinnerung zurück. Madonna war damals
die Pop-Ikone schlechthin. Dieser Erfolg lässt sich
nicht allein auf das Jahr 1986 reduzieren.
Madonna
beeinflusste das ganze Jahrzehnt. Von Anfang an
polarisierte die Künstlerin. Was die ältere Generation
schockierte, begeisterte die jungen Leute. „Like a
Virgin“ hieß ihr Hit, der ihr zu weltweitem Ruhm
verhalf. Als sie 1987 ihre Welttournee antrat, war das
ein Meilenstein, mit dem sie die 80er Jahre zu ihren
erfolgreichsten machte. Spätestens seit dieser Tournee
kannte man die Extrem-Künstlerin fast überall auf dem
Globus, unabhängig davon, ob man zu ihren Fans gehörte
oder nicht. Sie war nicht zu ignorieren.
Während im Jahr 1980 der Tod von
Jean-Paul Sartre in der
ganzen Welt Schlagzeilen gemacht hatte, seinem Sarg etwa
50.000 Menschen folgten, um dem bekanntesten und
renommiertesten französischen Intellektuellen des 20.
Jahrhunderts die letzte Ehre zu erweisen, ging das
Ableben von Simone de Beauvoir, seiner engen Freundin,
nicht ganz so spektakulär durch die
Nachrichtensendungen. Sie starb am
14. April 1986 in
Paris. Mit ihr schied eine politisch sehr engagierte
Schriftstellerin aus der Welt. Ihr Leben war mit dem
Jean-Paul Sartres seit ihrer beider Studentenzeit
verbunden. Bis zu seinem Tod stand sie ihm zur Seite.
Mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre verlor die
Welt zwei philosophisch herausragende Persönlichkeiten,
deren Plätze bis heute nur annähernd adäquat besetzt
werden konnten. Die Schriften der beiden großen Denker
werden nach wie vor diskutiert. Sie, die nebeneinander
auf dem Cimetière du Montparnasse in Paris begraben
liegen, werden auch meistens nur in einem Atemzug
genannt.
Über dem Jahresbeginn schien kein guter Stern zu stehen.
Der Tod des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme
versetzte nicht nur Skandinavien in Aufruhr. Auch die
europäischen Länder waren geschockt. Charisma, gepaart
mit außenpolitischem Engagement gegen den Vietnamkrieg,
für einen Korridor in Europa, in dem es keine Atomwaffen
geben sollte und das Ansehen Schwedens in der Welt – das
und vieles mehr verbanden die Menschen mit dem Namen
Olof Palme. Während seiner zweiten Amtszeit, die 1982
begonnen hatte, pflegte er auch sehr intensive Kontakte
zu Politikern wie Bruno Kreisky und
Willi Brandt. Sie
gehörten zu seinen persönlichen Freunden. Olof Palme
wurde Opfer eines Attentats, das am 28. Februar 1986 in
der Innenstadt der schwedischen Hauptstadt Stockholm
verübt wurde. Mitten am Tag. Nur 59 Jahre war er alt,
als er ums Leben kam. Doch nicht genug mit dem Attentat;
die ermittelnden Kräfte machten einen Fehler nach dem
anderen. Der Mord an Olof Palme konnte nie ganz
aufgeklärt werden. Es entstand zudem der Eindruck, dass
daran kein echtes Interesse zu bestehen schien.
Eine Frau, die Filmgeschichte geschrieben hat, eine
Frau, die in Amerikas Kinos erfolgreich über die
Leinwand flimmerte, hatte auch in Deutschland großen
Erfolg. Leider hat sie das Jahr 1986 nicht überlebt. Die
Rede ist von
Lilli Palmer. Eleganz, Charme, ihre
besondere Ausstrahlung und ihre bemerkenswerten Augen
hatten die Aufmerksamkeit eines großen Publikums auf
sich gezogen. Schön, dass diese faszinierende
Schauspielerin in ihren Filmen weiterlebt.
Er war kein Star der Achtziger, aber er ist eine
Erwähnung unbedingt wert:
Benny Goodman, ein Urgestein
in der Jazz-Geschichte. Er starb am
13. Juni 1986. Seine
Glanzzeit hatte in den
dreißiger Jahren begonnen und
praktisch kein Ende gefunden. Und noch heute ist sein
Name ein Begriff, nicht nur für Jazz-Insider, sondern
für Musikfreunde überhaupt. Der Swing wäre ohne ihn kaum
denkbar. Und der wird immer noch geliebt. Die jungen
Leute, die in den Achtzigern tanzen gingen, bevorzugten
allerdings mehr den Disco-Swing. Das war die große Zeit
für Modern Talking, das Bohlen-Anders-Duo, das die
westdeutsche Jugend mit tanzbarer Musik versorgte. Auch
im Ostteil des Landes hörte man sie. Und es war die Zeit
von Nicki, die sich mit ihren bayerischen
Mundart-Schlagern profilierte. Das allerdings
vornehmlich im Westen. Die "Fremdsprache Bayerisch“ war
in der
DDR noch nicht angesagt. Während in der
internationalen Musikszene u. a.
Chris Norman mit „Midnight
Lady“ die
Charts stürmte und
Tina Turner allein zehn
Wochen ihre Platzierung halten konnte, sang sich in
deutschen Landen
Peter Maffay mit seinem Drachen Tabaluga in die Herzen seiner großen und kleinen Fans.
Falco und
Elton John waren ebenso angesagt.
In der DDR war alles anders, auch die Musik. Hier waren
es vor allem die
Puhdys, die sich als renommierte
Rockband schon seit Jahren an der Spitze hielt und deren
Namen auch schon einige Musikfreunde in der benachbarten
BRD kannten. Die Gruppe, deren Gründung in das Jahr 1969
zurück geht, hatte nichts von ihrer Popularität
verloren. Sie war gerade in einer Zeit des Umbruchs –
und das waren die achtziger Jahre unbedingt – für viele
eine Unterhaltungs-Zuflucht.
Eine Zuflucht, immer mit einem Blick über die Grenze,
war auch die Mode. Und hier brachte der Rock für die
Männer frischen Wind ins Geschehen. Mutige trugen ihn.
Andere bewunderten die Mutigen. Für die Damen und
Mädchen gab es lange Röcke, kurze Kleider – es wurde
alles getragen, was gefiel. Die jungen Leute hatten
modische Narrenfreiheit. Wer bereits zu den Twens
gehörte, bevorzugte Safari-Kleidung, die vom Kino-Hit
„
Jenseits in Afrika“ inspiriert worden und nun diesseits
davon ein modischer Trend geworden war. Und seit 1981
die amerikanische Fernsehserie „Dallas“ auch in
Deutschland ausgestrahlt wurde, trug Frau jahrelang kaum
noch eine Bluse, einen Pullover oder eine Jacke ohne
künstlich verbreiterte Schulterpartien. Die Zeit war
ereignisreich und es musste schließlich viel auf diesen
Schultern ruhen. In der Rückschau erweisen sich die
breiten Schultern als eine Modesünde par excellence. Die
Menschen im Osten Deutschlands ahmten diesen Trend nach.
Mit der eigenen Mode-Industrie konnten deren
Textil-Künstler nicht allzu viel bewegen.
In der DDR und der BRD, deren beider
Gesellschaftssysteme sie zu Klassenfeinden degradierte,
gab es – unabhängig von der
Mode – einen kulturellen
Achtungserfolg. Die Hoffnung, es könnte an dem starren
System etwas zu rütteln sein, wuchs mit dem Auftritt von
Dieter Hildebrandt und Werner Schneider, die am 10.
Januar 1985 in
Leipzig auf der Bühne standen. Gewöhnt,
zwischen den Zeilen zu hören, zu entdecken und zu
verstehen, waren die Zuschauer mit einem Mal einer
offenen Satire ausgesetzt, einem Genuss, der neu war.
Udo Lindenberg, auf dessen „Sonderzug nach Pankow“ aus
dem Jahr 1983 fast jeder in der DDR aufgesprungen war,
durfte zwar zu einem Auftritt in den Berliner Palast der
Republik kommen, doch die geplante Tournee durch
die DDR
im darauf folgenden Jahr erlaubte man ihm dann doch
nicht. Dafür wuchs der Wunsch nach mehr kultureller
Freiheit unaufhörlich. Grund dafür waren auch die
Veränderungen, die sich in der Sowjetunion abzeichneten.
Bereits im März des Jahres 1985 hatte in der
UdSSR
Michail Gorbatschow den Posten des Generalsekretärs der
KPdSU übernommen. Mit ihm war ein Mann an die Spitze
gerückt, der jünger als seine Vorgänger war und dessen
Denkweise sich von der der sowjetischen Parteiveteranen
unterschied. Grundlegend. Gorbatschow dachte komplex und
vorausschauend. Mit ihm kamen Worte über eine neue
Offenheit – Glasnost – und über einen gesellschaftlichen
Umbau –
Perestroika – in den Sprachgebrauch der Länder
der sozialistischen Gemeinschaft, die für sie völlig neu
waren. Diese Aufbruchstimmung prägte die achtziger Jahre
besonders.
Zu Beginn des Jahres 1986 brachte der XXVII. Parteitag
der KPdSU eine erneute Überraschung. Dort kündigte
Gorbatschow radikale Wirtschaftsreformen an. Als er zwei
Monate später anlässlich des 11. Parteitages der SED
deren Delegierte gar zu mehr Selbstkritik ermahnte,
wurde allmählich erkennbar, dass große Veränderungen
ihre noch größeren Schatten voraus warfen. Dabei war die
Unterzeichnung eines Kulturabkommens zwischen der BRD
und der DDR nur ein kleines Nebenergebnis, wenn auch
eines, das zu neuen Hoffnungen berechtigte.
Immer mehr intellektuelle Bürgerrechtler in der DDR,
Angehörige kirchlicher Kreise und nicht zuletzt
zahlreiche Bürger, die einen Ausreiseantrag gestellt
hatten, zeigten sich nicht mehr willens, die
Repressalien zu akzeptieren, die ihnen seitens des
Staates angetan wurden. Gorbatschows Worte und seine
neue Politik der Reformen zogen Kreise, wurden von den
Regierungen in den sozialistischen Bruderländer jedoch
skeptisch beargwöhnt. Trotzdem war die Entwicklung nicht
mehr aufzuhalten. Umso größeres Entsetzen verursachten
die Ereignisse im Frühjahr 1989. Oppositionelle, nicht
nur Studenten, demonstrierten auf dem „Platz des
Himmlischen Friedens“ für Reformen in ihrem Land, der
Volksrepublik China. Dabei war der Staatsbesuch des
sowjetischen Parteichefs eine gute Gelegenheit, auch die
Weltpresse auf sich aufmerksam zu machen. Doch kaum war
Gorbatschow abgereist, zeigte die chinesische Führung
ihre wahre Vorstellung von Demokratie: Sie verhängte das
Kriegsrecht. Mit militärischer Gewalt bewies sie, wozu
eine Diktatur des Proletariats fähig war. Tausende
Demonstranten kostete dies das Leben. Die Welt
verurteilte diese Ereignisse einhellig. Die DDR
befürwortete sie offiziell.
Die Geschehnisse begannen sich zum Ende des Jahrzehnts
zu überschlagen. Immer mehr Ausreiswillige versuchten im
Sommer 1989 von
Ungarn nach
Österreich zu fliehen. Es
waren so viele, dass die ungarische Volksrepublik ihre
Grenzen offiziell öffnete. Tausende Menschen flohen in
kürzester Zeit in den Westen. Die DDR sah nicht tatenlos
zu. Sie genehmigte die Reisen nach Ungarn nicht mehr.
Nun versuchten sich die Menschen nach
Prag und
Warschau
zu retten, indem sie sich dort in die jeweiligen
Botschaften der Bundesrepublik flüchteten. Die
tschechische Republik ließ sich nicht vereinnahmen,
wollte sich neutral verhalten und
Polen hatte auch genug
eigene politische Probleme, wollte sich gleichfalls
nicht vor den DDR-Karren spannen lassen. Schließlich war
es der BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der mit
Genehmigung
Erich Honeckers den Menschen in der
Botschaft in Prag die Ausreise versprechen konnte. Sieg
oder Niederlage? Für die in der DDR zurückgeblieben
Menschen stellte sich die Frage anders. Was wird aus der
DDR? Klar war nur, dass nichts mehr so sein sollte, wie
es einmal war. Dafür setzten sich nun die meisten Bürger
ein, die im Lande geblieben waren. Die Ereignisse vor
dem entscheidenden Tag, dem
9. November, verliefen auf
Messers Schneide.
Am
4. November 1989 demonstriertem fast 5 Millionen
Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz. Transparente,
die nicht zensiert worden waren, Reden, die so noch nie
gehalten wurden, eine Entschlossenheit, die ein
selbstbewusstes Demokratie-Verständnis symbolisierte –
damit füllten die Menschen die Straßen. Sie waren aus
allen Städten des Landes angereist. Das „Neue Forum“,
eine gerade erst gegründete Vereinigung oppositioneller
Kräfte, hatte die organisatorischen Fäden in der Hand.
Zwar kam es zu Verhaftungen, die sofort das chinesische
Massaker in Erinnerung riefen, doch zu einem
militärischen Übergriff kam es nicht. Fünf Tage später
fiel die Mauer. Endgültig. Dieser 9. November 1989 war
ein Tag, der ob seiner Friedlichkeit mehr war als nur
der erste Schritt zur Wiedervereinigung. Er war der Sieg
einer unblutigen Revolution. Westberlin war überlaufen
wie nie zuvor. Der Ku’damm war zur Fußgängerzone
geworden und trotz der enormen Menschenmassen war alles
friedlich. Ob Brüder und Schwestern nun endlich wieder
zu Brüdern und Schwestern werden, würde die Zukunft
zeigen. Dieser Tag aber trug jedenfalls eine geballte
Ladung Hoffnung in sich.
Dass zu jener Zeit ein heiterer Tanz im Trend lag, der
Lambada, war sicher der Sehnsucht nach Freiheit zu
verdanken. Er verkörperte Freude und das Flair ferner
Länder, die die meisten Menschen in der DDR nur aus
Büchern oder Filmen kannten. Die Mauer war gefallen und
dahinter hatte sich eine fremde Welt offenbart. Um sie
zu meistern, bedurfte es Geduld. Auf beiden Seiten.
Die achtziger Jahre waren im weitesten Sinne eine Mut-
und Geduldsprobe mit Folgen. Erstaunlich, dass sie schon
so lange zurückliegen. Fühlen sie sich nicht wie ein
vergessenes Heute?
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Das
geschah
1985
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