Deutschland Politik 1984 – DDR-Flüchtlinge hungerten in Prager
Botschaft
Eine Pressemeldung aus dem Verteidigungsministerium in
Bonn hatte viel Wirbel ausgelöst: Der stellvertretend
eingesetzte Oberbefehlshaber der NATO, General Günter
Kießling, war vom Verteidigungsminister Manfred Wörner
in den Ruhestand versetzt worden. Wörner hatte später
mitgeteilt, dass die Versetzung von Kießling in den
Ruhestand aufgrund von dessen Homosexualität geschehen
war, die ein Sicherheitsrisiko darstellen würde. Er
würde dadurch erpressbar sein. Kießling wies die
Anschuldigungen massiv zurück und durfte in den aktiven
Dienst zurückkehren. Sämtliche Behauptungen blieben
unbewiesen, wirbelten in der Öffentlichkeit jedoch viel
Staub auf. In der Kießling-Affäre griff schließlich
Bundeskanzler Helmut Kohl ein. Nachdem Kießling
offiziell wieder im aktiven Dienst war, wurde er kurze
Zeit darauf ehrenhaft mit dem Großen Zapfenstreich
endgültig in den Ruhestand befördert. Wie scheinheilig
das Ganze war, zeigte sich zum Jubiläum der Bundeswehr
1985, da war Kießling als einziger Vier-Sterne-General
nicht eingeladen worden.
Noch immer war die Flucht aus der DDR ein probates
Mittel, um das Land verlassen zu können. Ausreiseanträge
hatten eine lange Dauer, Papier war immer schon
geduldig. Ein neues Niveau hatte es, als DDR-Bürger
beispielsweise im Januar in die ständige Vertretung der
BRD in Ost-Berlin flüchteten. Dort konnten sie nach
relativ kurzer Zeit dann tatsächlich in den Westen
ausreisen.
Das Beispiel machte Schule. Im Oktober musste die
BRD-Botschaft wegen Überfüllung geschlossen werden. Sie
war von 150 ausreisewilligen DDR-Bürgern bevölkert
worden. Ähnliches wurde aus den BRD-Botschaften in der
polnischen Botschaft in Warschau, aus
Budapest (
Ungarn)
und Bukarest (
Rumänien) berichtet. Irgendetwas musste in
der DDR faul sein, wenn es zu einer großen, neuen
Ausreisewelle kam. Damit nicht genug. Im Dezember traten
dann in der Prager Botschaft 40 Menschen, die dort auf
ihre Ausreise warteten, in den Hungerstreik. Sie
erreichten damit eine beschleunigte Prüfung der
Ausreiseanträge durch die DDR-Behörden und erhielten die Ausreise-Zustimmung. Am 18. Dezember hatte dann
Außenminister
Hans-Dietrich Genscher die Prager
Botschaft besucht, um mit den Flüchtlingen dort zu
sprechen. Die erhofften sich vom BRD-Politiker natürlich
Hilfe.
Derweil waren – wie Honecker es im Vorjahr versprochen
hatte – die letzten Selbstschussanlagen an der
innerdeutschen Grenze entfernt worden.
In der BRD hatte man ganz andere politische Dinge zu
bewältigen: Im Februar hatte der Prozess gegen die
RAF-Terroristen
Christian Klar und
Brigitte Mohnhaupt
begonnen. Spektakulär schließlich auch der Prozessbeginn
vor dem Hamburger Landgericht. Dort prozessierte die
Zeitschrift „stern“ gegen Konrad Kujau und den
Journalisten des „stern“ Gerd Hemann wegen der Fälschung
der Hitler-Tagebücher im Jahr 1983.
Und um die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten
wieder ein wenig ins Lot zu bringen, hatte im März ein
erster offizieller Meinungsaustausch zwischen
Abgeordneten West- und Ostdeutschlands in der
DDR-Hauptstadt Ost-Berlin stattgefunden. Schließlich
erklärte sich der Staatsratsvorsitzende
Erich Honecker
bereit, im Herbst der Bundesrepublik einen Besuch
abzustatten. Im September sagte Honecker den Besuch
wieder ab, weil ihm der Stil der Diskussion „äußerst
fragwürdig“ erschien und der Verkehr zwischen souveränen
Staaten „absolut unüblich“ sei.
In der Bundesrepublik gab es noch ein Ereignis, das in
der Bevölkerung auf große Zustimmung stieß, nämlich die
Wahl von Richard von Weizsäcker zum Bundespräsidenten.
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