Das Literaturjahr 2006 -
2006 war das Jahr der Literaturskandale und
Verlagsstreitigkeiten. Während Jostein Gaarder sich
kritisch zu
Israel äußerte und damit eine erboste
Diskussion auslöste, kam
Günter Grass in die Schusslinie der
Journalisten, als durch seine Autobiografie „Beim
Häuten der Zwiebel“ bekannt wurde, dass er in jungen
Jahren ein Mitglied der Waffen-SS war. Kritik wurde
an ihm darum geübt, weil er diese Tatsache zuvor
verschwiegen hatte und immerhin als das „moralische
Gewissen der Nation“ galt. Besonders Schriftsteller
wie Peter Handke empörten sich, wobei dieser selbst
Anfang des Jahres wegen seiner Sympathie für Serbien
und durch seinen Besuch am Begräbnis des Diktators
Slobodan Milosevic heftig in den Medien angegriffen
wurde. Auch Grass hatte befürwortet, dass der
Heinrich-Heine-Preis nicht an Handke ging, der
diesen abgelehnt hatte. Nun stand er selbst im
Mittelpunkt des Feuilleton-Gefechts.
Günter Grass übte später häufiger Kritik an
bestehenden Tabuthemen, darunter auch an Israel und
der dort verübten Kriegsverbrechen. 2006 führte der
Skandal dazu, dass sich sein Buch schon innerhalb
weniger Tage in 150.000 Exemplaren verkaufte.
Ähnlich erfolgreich waren die Memoiren von
Gerhard Schröder. Das lag mitunter jedoch
auch daran, weil der Verlag „Hoffmann und Campe“
eine großangelegte Marketing-Kampagne startete und
Gerüchten zufolge an Schröder eine Millionen Euro
gezahlt haben soll.
Gaarder wiederum schrieb seinen kritischen Kommentar
„Gottes auserwähltes Volk“ in der norwegischen
Zeitung „Aftenposten“, wo er die militärisch
fragwürdigen Einsätze und die skrupellose
Kriegsführung Israels im
Libanon anprangerte. Damit
löste er eine langanhaltende Kontroverse aus,
besonders weil er betonte, dass in der modernen Zeit
immer noch die These vom auserwählten Volk anmaßend
und arrogant wäre. Ihm ging es darum, darauf zu
verweisen, dass unter den jetzigen Umständen der
Staat Israel kein Sonderrecht mehr hätte, um sich
auf Gott zu berufen und gleichzeitig Verbrechen zu
begehen. Gegen Gaarder wurde daraufhin der Vorwurf
des Antisemitismus laut, während es ihm selbst nur
um die Krisensituation ging und nicht darum,
abfällig gegen Juden zu reden. Für ihn sei, so
stellte er später noch einmal richtig,
Antisemitismus das Schlimmste, was es gibt.
Ein neuer Bestseller wurde 2006 das Buch „Der
Weltensammler“ des Deutsch-Bulgaren Ilja Trojanow.
Es erhielt den Preis der Leipziger Buchmesse und war
eine gelungene Fortsetzung von Trojanows „Die Welt
ist groß und Rettung lauert überall“, das bereits in
den 90er Jahren erschien. Im aktuellen Werk ging es
um die Biografie von Richard Francis Burton, der
darin als erster Europäer und mit der Maske eines
Muslims
eine Pilgerfahrt nach Mekka antritt und als Spion
und Diplomat spannende Entdeckungsreisen macht.
Trojanow war dabei eine poetisch tiefgründige, aber
auch spannende Annäherung an die schillernde Gestalt
gelungen.
Von
Stephen King erschienen 2006 gleich zwei
Bücher. Zum einen „Love“ und zum anderen „Puls“.
Während „Love“ zugleich Liebes- und Horrorgeschichte
war und von King als Idee entwickelt wurde, als er
nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus lag
und nach seiner Entlassung auf ein durch seine Frau
verursachtes Chaos in seinem Schreibstudio traf, was
ihm vor Augen führte, wie es wäre, tot zu sein,
erzählte „Puls“ davon, was passiert, wenn durch ein
Signal über das
Mobiltelefon auf einmal alle Menschen
ihren Verstand und ihr Moralbewusstsein verlieren.
Die Welt artet in Gewalt und Chaos aus. Bei King
gehen aus einer solchen Katastrophe nur wenige
Überlebende hervor, die normal bleiben, sich durch
das Endzeitdrama schlagen und vor den „Phoners“
schützen müssen.
Nicht nur der populäre Schriftsteller Haruki
Murakami schrieb eindrucksvolle Bücher, auch der
Japaner Ryū Murakami machte immer wieder von sich
Reden. Er beanspruchte für sich die „reine
Literatur“, die sich noch einmal von der
Unterhaltungs- und Hochliteratur abheben sollte. Von
diesem kam 2006 „In der Misosuppe“ heraus, ein
Roman, der sich wie ein blutrünstiger
psychedelischer Trip liest, bei dem nichts und
gleichzeitig auch alles zusammenpasst. Der
Protagonist selbst hat am Ende das Gefühl, in einer
Misosuppe zu schwimmen. Von Murakami erschien später
auch das erste digitale Buch, das als multimedialer
Download heruntergeladen werden konnte, dabei aus
Video- und Musikstücken bestand.
Haruki Murakami wiederum veröffentlichte in diesem
Jahr „Blinde Weide, schlafende Frau, einen
Erzählband mit 24 Kurzgeschichten, die in den
letzten zwanzig Jahren entstanden waren.
Walter Kempowski brachte 2006 den Roman „Alles
umsonst“ heraus, der sein letzter werden sollte und
eine Geschichte war, die in der
Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, kurz
bevor die Rote Armee einmarschierte. Kempowski war
bekannt durch sein historisch eindrucksvolles
Projekt „Das Echolot“, das aus Alltagszeugnissen,
Briefen und Tagebüchern bestand und eine Collage des
Zeitgeschehens darstellte. Im Jahr 2006 wurde bei
dem Schriftsteller Darmkrebs diagnostiziert, an dem
er ein Jahr später verstarb. Das Einzige, so
Kempowski in einem Zitat, „das ihm am Tod traurig
machen würde, wäre der Umstand, als Toter keine
Musik mehr hören zu können.
2006 starben wunderbare Schriftsteller wie Stanislaw
Lem, ein Meister der Science-Fiction-Literatur auf
philosophischer Ebene, Muriel Spark, Fred Wander und
Hilde Domin. Die Journalistin und Autorin Anna
Politkowskaja wurde im
Oktober 2006 in einem Treppenhaus in
Moskau ermordet, wobei der Verdacht aufkam, dass der
Geheimdienst dabei seine Hände im Spiel hätte,
während Putin selbst von einer Provokation gegen
Russland und ihn sprach. Politkowskaja schrieb
kritisch über den Krieg in Tschetschenien. Der Mord
geschah an Putins Geburtstag.
Durch ihr Buch „Die Habenichtse“ machte sich
Katharina Hacker 2006 einen Namen und erhielt dafür
den Deutschen Buchpreis. Darin geht um eine moderne
Form von „Haben und Sein“, wobei die Protagonisten
auf der Suche nach sich selbst sind, sich treiben
lassen und zugleich auch Getriebene sind. Hacker
überzeugte durch eine dichte und atmosphärisch
anziehende Sprache. Den Literaturnobelpreis erhielt
2006 Orthan Pamuk, der mit fließender Fantasie seine
Türkei auferstehen lässt, dabei auch poetisch und
experimentell überzeugen kann. Pamuk war einer der
ersten, der den Genozid an den Armeniern durch die
Türkei
einräumte und zog sich in seinem Land den Zorn
türkischer Nationalisten zu.
Buch Bestseller 2006 Deutschland
Daniel Kehlmann – Die Vermessung der Welt
Donna Leon – Blutige Steine
Elizabeth George – Wo kein Zeuge ist
Ildikó von Kürthy – Höhenrausch
Günter Grass – Beim Häuten der Zwiebel
Charlotte Link – Das Echo der Schuld
Katharina Hacker – Die Habenichtse
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