Das Literaturjahr 2002 -
Ein Buch, das sicherlich unvergesslich bleibt, ist
der „Roman eines Schicksalslosen“ von Imre Kertesz,
der später dann auch den etwas fragwürdigen
Ausspruch „Ich bin Auschwitz“ prägte. Der Roman
erzählt autobiografisch von einem fünfzehnjährigen
Jungen, der die Deportationen in
Ungarn während des
Zweiten Weltkriegs miterlebt und selbst in den
Konzentrationslagern von Buchenwald und Auschwitz
landet. Er zeigt auf, wie schwer es für die Juden
war, sich, so aus ihrem täglichen Alltag gerissen,
gegen die Vorgänge zur Wehr zu setzen. Sie ergaben
sich ihrem Schicksal fast ohne Kampf, nicht einmal
mit innerlicher Empörung. Dabei besticht das Buch
durch seine emotionslose, trockene, naiv kindliche
und natürliche Erzählweise und ist eines von vier
Büchern der „Tetralogie der Schicksalslosigkeit“.
2002 erhielt Kertesz den
Literaturnobelpreis, weil er sich die
Geschehnisse des Dritten Reiches und das Leid der
Juden zum Schreibthema auserkoren hatte. Er
verarbeitete in Romanen, Essays und Tagebüchern die
eigene Deportation nach Auschwitz und kannte ebenso
die andere Seite, die des Wärters, als er in den
50er Jahren in einem Militärgefängnis arbeitete. In
beiden Situationen hatte er die Verantwortlichkeit
als freie Person verloren und musste sich seinem
Schicksal ergeben.
2002 erschien eine Vielzahl gelungener Werke, die
für Gesprächsstoff sorgten und die Leser
begeisterten. Eines der wichtigsten, das Haruki
Murakami den Weg für eine weltweite Berühmtheit
ebnete, war „Kafka am Strand“. Dieses faszinierende
Buch vermengt Wirklichkeit und Fantasie in einer so
einmaligen Form, dass selbst das Sprechen von Tieren
nicht auffällt und als ganz natürlich hingenommen
wird. Zwei parallel verlaufende Handlungsstränge
ergänzen sich, wobei einmal die Geschichte eines
Jungen und einmal die Geschichte eines älteren
Mannes erzählt werden, deren Schicksal, obwohl sie
sich nie begegnen, miteinander verbunden ist.
Murakami gehört zu den Schriftstellern, die gekonnt
solche Welten und Ebenen vermengen und gleichzeitig
in sehr modernem Stil den Westen und Osten einander
näher bringen. Dazu enthalten die Bücher auch
etliche Bezüge zu anderer Literatur und immer
großartige Verweise auf klassische
Musikinterpretationen.
Von Jose Saramago erschien „Der Doppelgänger“, ein
Roman, der in Lissabon spielt und den Wechsel der
Identität zum Inhalt hat, der sowohl den
Protagonisten als auch den Leser selbst betrifft.
Das Buch enthält eine klare Aufforderung an den
Hineinblickenden, sich aktiv zu beteiligen und zum
Co-Autor zu werden. Inhaltlich behandelt es die
Geschichte über den zurückgezogen lebenden Lehrer
Afonso, der in einem Videofilm auf einmal in einem
der Schauspieler seinen Doppelgänger entdeckt, bis
beide sich kennenlernen und die Rollen fatalerweise
vertauschen, um jeweils die Geliebte und Ehefrau des
anderen zu verführen. Was der eine verliert, gewinnt
der andere durch die Möglichkeit, seine Identität
komplett zu tauschen.
Paul Auster veröffentliche 2002 „Das Buch der
Illusionen“, das die Geschichte eines
Universitätsprofessors erzählt, der Frau und Kinder
bei einem Flugzeugabsturz verliert und in tiefe
Depressionen verfällt, bis ihm die Idee packt, ein
Buch über einen vermissten Schauspieler zu
schreiben, dessen Vergangenheit ihn vollständig
absorbiert. Auster, der auch in moderner Zeit
ablehnte, einen
Computer zu benutzen und in seinem
Schrank einen Jahrzehntevorrat an Farbbändern für
seine Schreibmaschine aufbewahrte, überzeugte in
seinem Roman mit dem für ihn so typischen Thema
eines von Krisen geschüttelten Menschen, der wieder
zurück ins Leben findet.
Weitere spannende Exemplare 2002 waren „Por n o“ von
Irvine Welsh, „Im Krebsgang“ von
Günter Grass, „Vier Arten meinen Vater zu
beerdigen“ von Liane Dirks, „Schnee“ von Ortan Pamuk,
„Im Rausch der Stille“ von Albert Sanchez Pinol und
„Tod eines Kritikers“ von
Martin Walser. Walsers Roman hatte sich
in seiner Kritik
Marcel Reich-Ranicki zum Vorbild genommen
und gegen den gesamten Literaturbetrieb gehetzt. Er
beschrieb die Schwierigkeiten einer
Buchveröffentlichung mit dem üblichen
Kritiker-Verriss, der im Buch zum Tod des Kritikers
durch den Schriftsteller führt. Der Roman war
zugleich eine Krimi-Farce und eine
Medienbetriebssatire und musste einiges an Kritik
einstecken, die größtenteils negativ ausfiel, weil
er als von Hass angetriebene Abrechnung verstanden
wurde und so wohl auch sensible Geister des
Literaturbetriebs traf. Vorwürfe waren u. a., dass
Walsers Thema schlicht den „Mord an einem Juden“
behandeln würde, was nicht in der Absicht des Autors
lag.
Bücher, die sich in die Köpfe anspruchsvoller Leser
eingeprägt haben, sind „Das Labyrinth des
Minotaurus“ oder „Sommergäste in Trouville“ von
Undine Gruenter. Letzteres geriet bei der
Veröffentlichung dann auch schnell zum Bestseller,
während andere einiges an positiver und negativer
Kritik entfachten. Die Autorin besticht durch ihre
Erzählkunst und schafft es, in ihren Büchern eine
bereichernde Atmosphäre an Lebensfreude,
Leidenschaft und Philosophie, aber auch an Mystik
und Todesmetaphorik aufzubauen. Sie war die Tochter
der Schriftstellerin Astrid Gehlhoff-Claes, zu der
sie ein sehr schlechtes Verhältnis hatte. Als
uneheliches Kind wuchs Gruenter im Waisenhaus auf.
Über ihre Mutter, die sie ständig in ihren
Biografien verleugnete, sagte sie, problematisch
wäre immer gewesen, dass ihre Mutter sie noch mit 35
Jahren lediglich zur Selbstinszenierung benutzte.
2002 starb die begabte Autorin an den Folgen ihrer
schon länger andauernden Krankheit Lateralsklerose,
die sie gegen Ende ihres Lebens an den Rollstuhl
fesselte. Ihr letzter Roman war „Der verschlossene
Garten“. Ihre Mutter überlebte ihre Tochter um knapp
9 Jahre. 2002 starben u. a. auch
Astrid Lindgren, die Erfinderin von Pippi
Langstrumpf und Ronja Räubertochter, Luise Rinser,
die „Grand Dame der deutschen Nachkriegsliteratur“
und Timothy Findley, der wiederum „Das dunkle Herz“
von Joseph Conrad als Vorlage nahm und daraus ein
fiktives Phantasiebuch schrieb, bei dem die Figuren
aus dem Buch entweichen und ihr eigenes Schicksal
verfolgen.
Bestseller 2002
Joanne K. Rowling – Harry Potter und der Stein
der Weisen
Joanne K. Rowling – Harry Potter und die Kammer des
Schreckens
Joanne K. Rowling – Harry Potter und der Gefangene
von Askaban
John Irving – Die vierte Hand
Günter Grass – Im Krebsgang
Henning Mankell – Wallanders erster Fall
Donna Leon – Das Gesetz der Lagune
Martin Walser – Tod eines Kritikers
Jonathan Franzen – Die Korrekturen
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