Politik 1988 - Gorbatschows Reformpolitik missfiel
Honecker
Beiden deutschen Staaten machte das zunehmende Anwachsen
rechtsradikaler Denkweisen zu schaffen. Die
DDR gab bereits im Februar 1988 zum ersten Mal
zu, dass Neo-Nazis im Land existierten, dass sie bekannt
seien und dass es sich ungefähr um 800 Skinheads
handelte. Im Mai hatte dann auch der Innenminister der
BRD, Friedrich Zimmermann, einen erheblichen Zuwachs in
den existierenden rechtsradikalen Organisationen
bekanntgegeben. Die Ursachen dafür waren in den beiden
Ländern in unterschiedlichen Bereichen zu suchen. Und
noch wurde die Existenz rechtsradikaler Elemente zwar
zur Kenntnis genommen, aber als eine echte Gefahr wurde
diese Existenz wohl noch nicht gesehen.
Mit Blick auf zukünftige bessere und vor allem
entspannte Beziehungen zwischen der BRD und der DDR sah
man in den Medien jedenfalls das Treffen zwischen dem
Regierenden Bürgermeister West-Berlins, Eberhard
Diepgen, und dem Staatschef der DDR,
Erich Honecker,
das im Februar stattfand und das die Verbesserung des
deutschen Reiseverkehrs dienen sollte.
Ein Beitrag zum Frieden stellte derweil der Abzug der in
der DDR stationierten Mittelstreckenraketen dar, mit dem
die Streitkräfte der Roten Armee begannen. Eine ebenso
friedliche Angelegenheit war auch der im März
veranlasste großangelegte Gebietsaustausch zwischen der
DDR und West-Berlin. Betroffen war unter anderem das
vier Hektar große „Lenné-Dreieck“. Als die Übergabe am
1. Juli wirksam wurde, räumten mehrere Hundertschaften
der West-Berliner Polizei das Gelände, wobei 182
Besetzer des Areals als sogenannte „Mauerspringer“ über
Leitern, die sie selbst gebastelt hatten und mit
entwendeten Umzäunungs-Gittern über Barrikaden an der
Mauer nach Ost-Berlin kletterten, also flüchteten. Sie
wurden im Todesstreifen in bereitstehende Lastwagen
verfrachtet, in eine Ost-Berliner Kantine zum Frühstück
gebracht und danach in einzelnen Grüppchen über reguläre
Grenzübergänge nach West-Berlin abgeschoben. Bei den
Besetzern handelte es sich um linksalternative
West-Berliner, die in dem Lenné-Dreieck inzwischen ein
Zeltdorf errichtet hatten, um dort weitgehend die
unberührte Natur zu erhalten. Ein Fakt, der durch die
undurchsichtige politische Lage begünstigt worden war.
Erschütternd war im April der Sprengstoffanschlag, der
in
Frankfurt am Main auf das jüdische Gemeindezentrum
verübt wurde. Bei einem weiteren Anschlag, der im
September auf den Staatssekretär des Finanzministeriums
der BRD, Hans Tietmeyer verübt wurde, waren Mitglieder
der RAF die Drahtzieher gewesen. Tietmeyer und sein
Fahrer konnten dem Beschuss glücklicherweise entkommen.
Keiner kam ernsthaft zu Schaden.
Ebenfalls im September war der DDR-Staatsratsvorsitzende
Erich Honcker nach
Moskau gereist. Dort erklärte er die
volle Unterstützung des neuen Kurses zur Erneuerung der
sowjetischen Gesellschaft. Unglaublich, dass er in
Ost-Berlin dann auf einer Tagung der SED seine Ablehnung
der Reformpolitik Gorbatschows unmissverständlich
deutlich machte. Als ob die DDR Reformen nötig hätte.
Alles sollte so bleiben, wie es war. Festgefahren und
unverändert.
Alle politischen Ereignisse wurden im Oktober
überschattet vom Tod des Bayerischen Ministerpräsidenten
und Parteivorsitzenden der CSU,
Franz Josef Strauß. Der Politiker war an
Herzversagen gestorben. Den CSU-Parteivorsitz übernahm
Theo Waigel und neuer Ministerpräsident in Bayern wurde
Max Streibl.
Eine große Veränderung hatte es auch im bundesdeutschen
Verteidigungsministerium gegeben. Der Minister Manfred
Wörner gab sein Amt ab und nahm die Ernennung zum
Generalsekretär der NATO an. Seine Nachfolge im
Verteidigungsministerium trat der bisherige
West-Berliner Senator Rupert Scholz an.
Und im November trat Bundestagspräsident Philipp
Jenninger von seinem Amt zurück. Er war über seine
umstrittene Rede anlässlich des 50. Jahrestages der
Reichspogromnacht gestolpert. Seine Amtsnachfolgerin
wurde
Rita Süssmuth, die zuvor Familienministerin war.
Eine Frau im Amt. Das entsprach dem Vorschlag der
Frauenquote, der auf dem SPD-Parteitag Anfang September
in Münster mit einer klaren Mehrheit von 87 Prozent
angenommen worden war. Soll heißen: Bis zum Jahr 1994
sollten 40 Prozent aller Ämter und Mandate an Frauen
vergeben werden.
Derweil hatte die DDR diplomatische Beziehungen mit der
EG aufgenommen. Die schienen erste Früchte zu tragen,
denn im Spätherbst kam erstmalig eine Delegation des
Europäischen Parlaments in die Volkskammer der DDR zu
einem Besuch.
Wie dicht sich beide deutschen Staaten vor einer großen
historischen Veränderung befanden, konnte dennoch
niemand genau voraussehen, obwohl es in allen Bereichen
brodelte. Doch noch waren die Zeichen nicht genau zu
lesen.
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