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DDR Chronik 1989 - Die Mauer fiel...

Das Jahr, das mit historischen Ereignissen in die Geschichte einging – in die deutsche ebenso wie in die internationale – begann noch unspektakulär. Doch die Nachricht, dass in der Sowjetunion die Bevölkerung am 26. März zum ersten Mal zu einer freien Wahl für die Vertreter im Volksdeputiertenkongress an die Urnen gehen durfte, ließ dennoch aufhorchen. Michail Gorbatschow (*1931) setzte konsequent um, was er auch der DDR geraten hatte. Doch die SED- Führung schien nichts zu sehen und nichts zu hören. Auch die Wiederzulassung der polnischen Gewerkschaft Solidarność am 5. April, die seit ihrem endgültigen Verbot am 8. Oktober 1982 im Untergrund aktiv geblieben war, machte auf die DDR-Politiker keinen Eindruck. Jedenfalls nicht nach außen hin. Derartige Meldungen waren für die Menschen dennoch wie ein Fanal. Es konnte nicht so weitergehen wie bisher – dieser Meinung waren die meisten DDR-Bürger. Sie wollten Veränderungen, wollten eine Demokratie, die sich im Sinne des Zeitgeistes gestaltete und in der sie nicht länger zu unmündigen Bürgern abgestempelt waren nach den festgefahrenen Strukturen alternder Genossen.
Gleich zu Beginn des Jahres konnten zwanzig Ausreisewilligen bei zugesicherter Straffreiheit die DDR verlassen, nachdem sie sich tagelang in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin aufgehalten hatten. Die Reaktion des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker (1912-1994) dazu war dennoch eindeutig. Er versicherte, dass die Mauer noch in 50, noch in 100 Jahren stehen würde. Die politischen Reaktionen auf die Stimmung, die endlich Veränderung erforderte, war von solch einer Sturheit, dass die Menschen nicht nur wütend, sondern auch bereit zum Handeln waren. Auch in der DDR gab es längst einen „Untergrund“, der sich seit Beginn des Jahres 1989 ans Licht wagte. Erstmals ging am 30. Januar beim Ministerium des Innern ein Antrag ein, der eine „Vereinigung zur Beobachtung und Förderung des KSZE-Prozesses in der DDR“ zum Inhalt hatte. Jürgen Krüger und Friedemann Müller, zwei Diakone der Evangelischen Kirche hatten ihn gestellt. Hier hätten Honecker und seine Genossen Farbe bekennen können, wie ernst es ihnen ist mit dem, was sie bereits 1975 in Helsinki in Bezug auf Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterschrieben hatten. Doch sie hüllten sich in Schweigen, nahmen aber zur Kenntnis, dass es oppositionelle Bestrebungen gab. Die Staatssicherheit witterte eine Verschwörung.
Während in Ungarn die Grenzanlagen zu Österreich abgebaut wurden, gab es in der DDR Ärger bei den Kommunalwahlen. Sollten tatsächlich 98,85 % der Wähler die Einheitsliste gewählt haben? Nein, sicher nicht. Der Vorwurf der Manipulation machte sich breit und die Folge dieser Wahlen, die am 7. Mai stattgefunden hatten, waren regelmäßig auf den siebten des Monats abgehaltene Protestaktionen. Sie fanden nicht nur auf dem Berliner Alexanderplatz statt, sondern auch in anderen Städten des Landes. Doch wie man von Seiten des Staates mit Protesten umging, zeigte sich spätestens, als von der „chinesischen Lösung“ Rede war, nachdem es in Peking im Juni auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ ein Blutbad gegeben hatte. Die DDR-Politiker dachten gar nicht daran, dieses Blutbad zu verurteilen, eine Reaktion, die die Bürger in der DDR entsetzte.
Im selben Monat reisten unzählige DDR-Bürger nach Ungarn. Die Grenzöffnung zu Österreich war wie ein Ventil für alle, die nicht mehr in der DDR bleiben wollten. Wieder andere blieben und kämpften, waren um Veränderungen bemüht. Sehr viele Menschen glaubten, dass eine echte Umgestaltung möglich wäre.
Das West-Fernsehen informierte jeden Tag aufs Neue über Flüchtlingsströme. Die Botschaften der BRD in Budapest, in Berlin, in Prag und in Warschau quollen über und wurden wegen Überfüllung geschlossen. Es waren alarmierende Zustände. Derweil bereitete sich die SED-Führung auf den 40. Jahrestag des Bestehens der DDR vor. Es konnte aber niemand übersehen, dass das Land eine entscheidende Umwälzung durchlebte. Wohl wählten viele, sehr viele sogar, den Westen als neue Heimat, aber noch viel mehr Menschen blieben in der DDR und fanden sich ab dem 4. September zu Demonstrationen zusammen, um ihr Interesse an diesem Land zu bekunden. Auf diesen Montagsdemonstrationen, die in Leipzig ihren Ursprung hatten, forderten die Menschen Freiheiten, die für einen demokratischen Staat längst eine Selbstverständlichkeit hätten sein sollen – Reise-, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Der größte Teil der Bevölkerung der DDR wollte aufrichtig an der Politik des Landes teilnehmen. Doch alle öffentlichen Bekundungen, wie beispielsweise die in Berlin am siebten Tag des September, die sich erneut gegen die gefälschten Wahlen richteten, hatten seitens der Staatsmacht nur Unverständnis und Verhaftungen zur Folge. Die Führung unter Erich Honecker hielt mit Parolen und Drohungen gegen den Aufruhr ihres Volkes und als schließlich über Ungarn etwa 30.000 Menschen die Ausreise gelang, war von organisiertem Menschenhandel die Rede.
Oppositionelle Gruppierungen versuchten sich zu etablieren. Das „Neue Forum“ und „Demokratie Jetzt“ gründeten sich und hatten von Seiten des Ministeriums des Innern keine echte Chance, sich aktiv an der Politik zu beteiligen, weil im Keim durch Verbote erstickt wurde, was kaum entstanden war.
Die Stimmung im Lande kochte fast über und immer mehr Menschen wählten den Weg in den Westen. Derweil wurden die Montagsdemonstrationen in Leipzig zu einer festen Größe. Immer mehr Bürger gingen auf die Straße, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Im Großen und Ganzen gingen diese Aktionen friedlich über die Bühne. Die Feierlichkeiten zum Republik-Geburtstag am 7. Oktober wurden jedoch von Ausschreitungen begleitet, es gab Festnahmen, während sich das Politbüro im fadenscheinigen Glanze des Erreichten beweihräucherte. Kein Wort davon, dass die DDR wirtschaftlich am Ende war, dass der reale Sozialismus in eine Sackgasse geraten war, dass die Regierung ihr wertvollstes Potential – das Volk – betrogen hatte. Im Gegenteil. Honecker ließ sich von seinen Hardlinern bejubeln und war blind für die Zeichen der Zeit.
Auch die historische Aktion von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (*1927), der auf dem Balkon der Prager Botschaft den vielen DDR-Flüchtlingen die Ausreise zusicherte, die in Prag und Warschau die Botschaften belagerten, war nicht dazu angetan, der DDR-Regierung die Augen zu öffnen.
Am Jahrestag der DDR war es wieder der sowjetische Reformpolitiker Gorbatschow, der seinen Berlin-Besuch nutzte, um die Genossen zu ermahnen, sich den Forderungen zu stellen und Reformen zuzulassen. Die SED-Führung und ihre Handlanger zogen nichts dergleichen in Betracht. Es kam zu Verhaftungen und zu brutalen Zerschlagungen von Demonstrationen, zu denen sich die Menschen vielerorts im Lande zusammengefunden hatten. Derweil löste sich in Ungarn die Kommunistische Partei auf.
Der Rede des DDR-Bischofs Gottfried Forck (1923-1996), die er in der Berliner Gethsemanekirche hielt und in der er eine echte Demokratie einforderte, dabei eindringlich an die Obrigkeits-Ohren appellierte, stand Tags später u. a. den Leserbriefen gegenüber, die in der „Berliner Zeitung“ veröffentlicht wurden und die sich gegen die Demonstrationen am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, richteten. Flugblätter kursierten und in Dresden begann auf Mit-Initiative des Dresdner Oberbürgermeisters Wolfgang Berghofer (*1943) der „Dresdner Dialog“. Berghofer, der seiner Reformbestrebungen auch „Bergatschow“ genannt wurde, war einer der Reformsozialisten der DDR, der sich aus der Namenlosigkeit vieler hervorhob und der letztendlich entscheidend zur Wende in der DDR beitrug. Berghofer und der „Dresdner Dialog“ mit der „Gruppe der 20“ sorgten dafür, dass die Oppositionellen –jedenfalls in Dresden - von autoritären Maßnahmen weitestgehend verschont blieben, die ihnen während einer Demonstration am Tag nach dem Republik-Geburtstag drohten. Die „Gruppe der 20“, das waren Dresdner Bürger, die sich trauten, die aber nur ein paar wenige waren, denn die Revolution war im ganzen Land im Gange. Friedlich, aber massiv. Eine der Leipziger Montagsdemonstrationen brachte bereits 120.000 Menschen auf die Straße.
Die DDR-Führung reagierte endlich. Am 18. Oktober trat der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker von seinen Ämtern zurück. Er gab gesundheitliche Gründe für seinen Rücktritt an, vergaß aber Folgendes nicht zu betonen: Zitat: „...Die Gründung und die Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik, deren Bilanz wir am 40. Jahrestag gemeinsam gezogen haben, betrachte ich als die Krönung des Kampfes unserer Partei und meines Wirkens als Kommunist.“
Auch der Sekretär des ZK der SED für Wirtschaft, Günter Mittag (1926-1994), hatte alle seine Posten verwirkt. Zum neuen Generalsekretär der Partei wurde Egon Krenz (*1937) benannt. Er trat auch im selben Monat die Nachfolge Honeckers als Staatsratsvorsitzender an.
Während die TV- und Printmedien weiter über Ausreisende berichteten, die über die Botschaften, beispielsweise in Prag, in die BRD geflüchtet waren, bot die DDR-Führung eine große Amnestie an für alle Geflohenen und auch für all die Bürger, die inhaftiert worden waren wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen, die spontan, also nicht genehmigt stattgefunden hatten. Die Regierung hatte Sorge, zu viele Oppositionelle gegen sich aufgebracht zu haben und auch zu viele Arbeitskräfte an den Westen verloren zu haben. Eine späte Einsicht.
Doch wenigstens schienen nun Gespräche miteinander möglich. Die Gruppe „Demokratischer Aufbruch“ konnte sich in Berlin gründen, die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM) wurde zu einer landesweiten Organisation und auch das Verbot der Bürgerrechtsgruppe „Neues Forum“ wurde überprüft. Im TV war es ein großer Moment, dass die Propagandasendung „Der schwarze Kanal“ von und mit Karl-Eduard von Schnitzler (1918-2001) zum letzten Mal über den Bildschirm flimmerte. Sie war 29 Jahre lang montags um 21:30 Uhr nach dem Spielfilm gelaufen, war verhasst und hatte viel Anlass zu politischer Polarisierung gegeben.
Ein historisches Ereignis war die Großdemonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz. Hier war nichts von Staatswegen gelenkt, nur die Sicherheit dieses größten Aufmarsches in der DDR-Geschichte war organisiert, nicht die Staatssicherheit, sondern die Sicherheit der Demonstranten. Und genehmigt war diese Demonstration obendrein. Offiziell veranstaltet von Künstlern der Berliner Theater, vom Verband Bildender Künstler, vom Verband der Film- und Fernsehschaffenden und vom Komitee für Unterhaltungskunst. Sie fand statt mit einem ersten Hauch von Freiheit nach Artikel 27 der Verfassung der DDR, der die Meinungsfreiheit, die Presse- und Versammlungsfreiheit beinhaltete und der in dieser Art noch nie umgesetzt werden konnte. Es kamen Berliner und Demonstranten aus der ganzen Republik zusammen. Sie trugen selbstentworfene Plakate und Transparente zur Schau. Eine riesige Menschenmenge hatte sich versammelt. Hunderttausende bekannten sich zu ihrem Land, dass sie sich in veränderter Form gut vorstellen konnten. Frei und demokratisch. Prominente Redner hatten sich für die Kundgebung angekündigt, Künstler, Politiker, Bürgerrechtler und einige Repräsentanten des Staates, deren Worte allerdings immer wieder von Unmutsäußerungen und Pfeifkonzerten unterbrochen wurden. Die Polizeibeamten hielten sich im Hintergrund. Sichtbar waren dagegen freiwillige Ordner mit Schärpen, auf denen „Keine Gewalt“ zu lesen war. Vorsichtshalber hatte man die DDR-Grenztruppen in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Doch der befürchtete Run auf die Berliner Mauer blieb aus. So war es ja auch nicht geplant. Man wollte sich ausdrücken, endlich Gehör finden – eine Wende herbeiführen.
Von diesem Tag an ging alles Schlag auf Schlag. In aller Eile wurde der Entwurf eines
Reisegesetzes veröffentlicht, in dem festgelegt war, dass jeder DDR-Bürger 30 Tage ins Ausland, auch ins westliche(!), reisen durfte. Man konnte eine Reise beantragen, mit Repressalien für so ein Reisebegehren würde niemand mehr rechnen müssen. Trotz dieses Gesetzentwurfs war die Regierung am Ende ihrer Macht, am Ende ihrer Machenschaften.
Erst trat am 7. November Willi Stoph (19914-1999), der Vorsitzende des Ministerrats zurück und einen Tag später schließlich das gesamte Politbüro. Krenz blieb als Generalsekretär der SED im Amt.
Der 9. November wurde für Günter Schabowski (*1929) zum großen Tag. Als Sekretär des Zentralkomitees der SED für Informationswesens – eine Position, die drei Tage vorher erst geschaffen worden war – fiel ihm die Aufgabe zu, die neue Reiseregelung öffentlich zu verlesen. In den DDR- und in den BRD-Medien verbreitete sich diese Meldung in Windeseile, nur sie sollte eigentlich noch nicht in Kraft treten. Doch Schabowski, der einem Missverständnis aufgesessen war, erklärte einem Reporter, dass die Regelung nach seinem Wissensstand sofort in Kraft trete. Auch diese Nachricht verbreitete sich schnell und sie hatte den historischen, wenn auch ungeplanten Fall der Berliner Mauer zur Folge, zu der ein Massensturm losgebrochen war, begleitet von Fassungslosigkeit, Freude, Tränen und einem Gefühl der Erlösung. Was der sowjetische Staatschef Gorbatschow bereits im Juni 1989 bei seinem Besuch in der DDR lapidar festgestellt hatte, nämlich, dass die Mauer wieder verschwinden könne, wenn auch die Voraussetzungen entfielen, die sie hervorgebracht hatten – das war endlich Realität geworden.
In Regierungskreisen spielte sich derweil in allen Positionen ein Wechsel ab, der allerdings an der unfassbaren Situation nichts ändern konnte. Der Chef der Staatssicherheit, Erich Mielke (1907-2000), hatte noch einmal Schlagzeilen gemacht mit seinem Satz „Ich liebe euch alle“, aber diese Liebe wollte niemand haben. Jetzt war es an der Zeit, dass sich die einstige DDR-Führung den unterschiedlichsten  Vorwürfen in juristischem Rahmen stellen musste. Es kamen Dinge zutage, die das ganze Ausmaß einer maroden Wirtschaft bloßlegten, die ein korruptes System entlarvten und die es den derzeitigen Politikern der neuen DDR schwer machten, derweil durch Berlins Straßen LKWs mit abgebauten Mauersegmenten fuhren als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.
Die Situation war fröhlich, absurd und in aller Ungewissheit auch zuversichtlich.
Die Intellektuellen in der DDR waren emsig bemüht, für eine neue Politik einzutreten, während der Bundeskanzler Helmut Kohl (1930-2017), der die DDR bereits 1988 privat bereist hatte, ein „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ proklamierte. Er wollte eine Wiedervereinigung Deutschlands in spätestens zehn Jahren herbeiführen.
Auch der Dezember 1989 war noch ein unruhiger Monat. Die aufgelöste Staatssicherheit konnte nicht schnell genug alle Akten vernichten. Dafür sorgten die Bürger selbst. Sie besetzten die Gebäude und retteten alles, was sich zur Aufarbeitung der vergangenen Jahrzehnte retten ließ. Nach seiner kurzen Amtszeit als Staatsratsvorsitzender trat nun auch Egon Krenz wieder zurück und Erich Mielke wurde inhaftiert.
Die Montagsdemonstration, die in Leipzig immer noch traditionell stattfand, forderte in dieser Situation zum ersten Mal die Wiedervereinigung. Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Als Helmut Kohl im Dezember zu einem Besuch in Dresden eintraf, wurde er frenetisch bejubelt. Das Brandenburger Tor in Berlin konnte zu Fuß durchschritten werden. Berlin war wieder Berlin geworden. Und Westdeutschland war kein Feindesland mehr.
Dass die Silvesterfeier am Brandenburger Tor ein Fest der Superlative wurde, verwunderte nicht. Es gab Skeptiker, die der Zukunft sorgenvoll entgegensahen. Es gab Optimisten, die an die „blühende Landschaften“ glaubten, die ihnen der Kohl-Messias verhießen hatte. Doch vor allen Dingen gab es keine Mauer mehr..
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