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Literaturjahr 1912 Literatur in Deutschland


In einer windigen Nacht im Jahr 1912, genauer vom 22. auf den 23. September, setzte sich Franz Kafka in melancholischer Stimmung an den Schreibtisch und verfasste innerhalb von acht Stunden die komplette Erzählung „Das Urteil“.
Die Geschichte, so Kafka, sei eine Geburt „mit Schmutz und Schleim bedeckt“ gewesen. Als er später Max Brod bat, all seine Schriften, Romane und Erzählungen zu verbrennen, was dieser nicht tat, da die Kunst seiner Ansicht nach bewahrt gehörte, so sehr der Künstler auch an seinem eigenen Werk zweifelte, war Kafka wohl kaum bewusst, dass auch diese Erzählung einen zukünftigen Leser erreichen würde.
Kafka hatte immer mit der Beziehung zu seinem Vater zu kämpfen. Die Erzählung behandelte jenen Vater-Sohn-Konflikt, der mit dem Wunsch des Vaters endete, der Sohn möge ertrinken, den dieser ihm dann erfüllt. Wie immer war die Erzählung äußerst surreal oder mit dem Begriff „kafkaesk“ richtig bezeichnet und ist u. a. eine der faszinierendsten dieses so traurigen Schriftstellers.
Aber das Jahr 1912 war auch ansonsten reich an Veröffentlichungen und Buchentstehungen. Anfang des Jahres schloss Rainer Maria Rilke die erste seiner „Duineser Elegien“ ab und sendete sie an seine Bekannte Marie Taxis, um ein Urteil von ihr zu erbitten. Das ganze Manuskript wurde dann erst zehn Jahre später fertig. Der Titel leitete sich von dem Schloss Duino in der Nähe von Triest ab, wo Rilke gern gesehener Gast bei der Gräfin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe war. Der Gedichtzyklus war eine Zusammenführung aus Elegie und Hymne, behandelte Glück, Liebe und die Klage über die Kämpfe des menschlichen Bewusstseins.
Auch Thomas Mann war in diesem Jahr fleißig und veröffentlichte seine berühmte Erzählung „Der Tod in Venedig“. Sie wurde 1912 als Luxusdruck von hundert nummerierten Exemplaren herausgegeben, erschien danach in der „Neuen Rundschau“ und ein Jahr später beim S. Fischer Verlag. Bekannt ist die Geschichte vom selbstbeherrschten Schriftsteller, der zur Erholung nach Venedig reist und dort einem Jungen begegnet, der ihn fasziniert und in seinen aus der Nüchternheit gewandelten, leidenschaftlichen Emotionen völlig verändert und entwürdigt.
1912 formten sich in der Kunst und Literatur neue Richtungen, darunter der Futurismus. Im Februar dieses Jahres brachte Filippo Tommaso Marinetti das Manifest des Futurismus heraus. Marinetti galt damit als der Begründer dieser Kunst- und Literaturrichtung, die nach dem Maschinenmenschen strebte, der Traditionen, Nächstenliebe und Schwäche über den Haufen zu werfen hatte, um daraus rücksichtslos und stark für eine bessere Zukunft hervorzugehen. Mit seinem Manifest wollte Marinetti nicht nur eine neue Kunstrichtung ins Leben rufen, sondern auch die Kultur komplett umwandeln, indem er mitunter Krieg und Gewalt als Notwendigkeit propagierte, als die einzig wichtige Hygiene der Welt, nebenbei auch die Natur ablehnte, das „verlockende Weib“ verachtete und zur Anarchie aufrief.
Während sich die Richtungen zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg stark mit dem Zerfall des schwächlichen und beeinflussbaren Menschen auseinandersetzten, schrieb Arthur Schnitzler an einem Werk, das 1912 noch den Titel „Wahn“ trug. Auch wurde von ihm die Novellensammlung „Masken und Wunder“ veröffentlicht, während Gerhard Hauptmann seinen Roman „Atlantis“ herausbrachte. Für diesen Schriftsteller war das Jahr besonders herausragend, da er für sein dramatisches Werk den Literaturnobelpreis erhielt.
In England wurde aus der Schriftstellerin Virginia Stephen die bekannte Virginia Woolf, die am 10. August 1912 ihren Gatten Leonard Syndey heiratete, wogegen sich Schriftsteller wie der Däne Hermann Bang, bekannt durch seine wunderschön poetischen Kindheitsbetrachtungen „Das weiße Haus“ und „Das graue Haus“, Karl May, der Dramatiker August Strindberg oder der Ire Bram Stoker aus dem Leben verabschiedeten, um von da an alleine durch ihr Werk weiter zu existieren.

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