Chronik 1939 – Der Beginn des Zweiten Weltkrieges

Mit der Zweiten Namensänderungsverordnung, die dazu beitragen sollte, die Juden schon am Vornamen zu erkennen, begann das Jahr. Jeder jüdische Bürger musste zusätzlich den Namen „Israel“ oder „Sarah“ annehmen. Doch nicht nur für die Juden war das Jahr 1939 ein verheerendes Jahr. Auch alle anderen deutschen Mitbürger, besonders die männlichen, mussten sich auf große Ereignisse einstellen. Die Rüstungsindustrie war seit Jahren schon auf dem Vormarsch und das bedeutete nichts Gutes. Seit Adolf Hitler 1933 die Macht im Land ergriffen hatte, gab es für ihn nur ein Ziel – Deutschland musste in der Welt seinen Platz bekommen, der eine neue Größe hatte. Hitler tat alles dafür, tat es konsequent und rigoros. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn. So einfach war das. Doch im Alltag war das durchaus nicht einfach. Die braunen Horden waren unterwegs, verbreiteten Angst und Schrecken. Die Juden waren im besonderen Fokus der nationalsozialistischen Machthaber. Während am 1. April der Spanische Bürgerkrieg endete, der den Putschisten einen Sieg verschafft hatte und die faschistische Franco-Diktatur an die Macht brachte, wurde auch in Deutschland mobil gemacht. Noch einmal wurde das deutsche Volk im Mai gezählt. Nichtangriffspakte wurden geschlossen. Doch schließlich fingierten eine Handvoll SS-Männer den Überfall auf den polnischen Sender Gleiwitz. Hitler ließ am Morgen des 1. September 1939 als Rechtfertigung für diesen „feigen“ Überfall, von seinen Wehrmachtstruppen Polen angreifen. Der Zweite Weltkrieg hatte mit diesem Polenfeldzug begonnen. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile. Wobei im nationalsozialistischen Großdeutschen Reich nach einer – ebenfalls zeitgleich veröffentlichten Verordnung – das Hören ausländischer Radiosendungen unter Strafe gestellt wurde. In besonderen Fällen wurde die Todesstrafe angedroht. Alle ausländischen Sender waren somit zu „Feindsendern“ geworden und wenn man sie hörte, dann nur heimlich und leise. Nachbarn konnten einander nicht mehr trauen.
Der Einmarsch in Polen hatte die Beistands- und Kooperationspakte gelöst. Die Nichtangriffspakte und die Garantieerklärungen waren hinfällig. Deutschland preschte nach
vorn und gedachte, sich die Welt untertan zu machen. Hitler stand zwar an vorderster Stelle, aber er hatte in den Jahren seit seiner Machtergreifung eine Menge Helfer um sich geschart, die mit hündischem Gehorsam die Sache in seinem Sinne gleichsam vorantrieben.
Hitler wurde auch aufgrund eines neuen Gesetzes, dass im Juni verabschiedet worden war, die Deutsche Reichsbank unmittelbar unterstellt. Er musste alles beherrschen, alles bestimmen und wurde dafür noch von vielen Deutschen, besonders denen in seiner nahen Umgebung, bewundert. Heute würde man wohl sagen, er war ein Kontrollfreak gewesen. Der Jubel in deutschen Landen über die ersten Erfolge bei der Welteroberung war zunächst weitestgehend echt. Die Menschen waren von dem Führer-Charisma gebannt, trugen seine Ideen mit und wer kurz vorher noch friedlich mit einem Juden nachbarschaftlich verkehrte, der sah sich jetzt einem Feind des deutschen Volkes gegenüber. Der Jude war an allem schuld, was nicht ins Bild passte. Soweit hatte Hitler sein Volk schon gebracht. Die meisten, nicht alle. Die, die Widerstand leisteten, seine Herrschaft durchschauten, mussten auf der Hut sein, um nicht in ein Konzentrationslager abgeschoben zu werden, aus denen fast keine Wiederkehr möglich war. Juden waren schon in großer Zahl deportiert worden.
Deutschland war seitens der Regierung minutiös auf den Krieg vorbereitet. Wenige Tage vor dem Ausbruch des Krieges waren Lebensmittelmarken und Fahrbenzin-Bezugsscheine ausgegeben worden. Später kamen die Bezugsscheine für Kleidung dazu, die Reichskleiderkarten. Der Sparkurs war hart, denn die Soldaten, die an vorderster Front ihr Leben für das Deutsche Reich zu Felde trugen, mussten Uniformen haben. Immer mehr wurden davon gebraucht. Das bedeutete für den Rest der Bevölkerung Einschränkungen über Einschränkungen. Doch die Mode war deshalb längst nicht einfach ausgeschaltet. Die Damen wollten nicht minder attraktiv aussehen als in Friedenszeiten. Die Stoffe wurden knapper. Es entwickelte sich eine kriegseigene Kreativität, besonders im Alltag. Das Bolero – die sehr kurze Jacke – die die Taille betonte, in dem sie sie sichtbar machte, gehörte in jener zum modischen Muss, wollte eine Frau gut gekleidet sein. Die Mode 1939 wurde letztendlich von zwei gegensätzlichen Linien dominiert. Weite Röcke, die beim Laufen mitschwangen und etwa knielang waren, bildeten die Gegenlinie zu den ganz engen, gerade geschnittenen Röcken und Kleidern. Eine modische Steigerung gab es bei der Abendgarderobe. Hier durften die Schultern gern auch eine extravagante Breite haben, um die schmale Taille zu betonen. Die Festgarderobe ließ nichts von Stoffknappheit oder Materialmangel sichtbar werden. In den Kreisen derer, die sich das Feiern leisten konnten, wähnte man sich ohnehin als Kriegsgewinner und kannte keine Einschränkungen.
Das nationalsozialistische Regime hatte allen Bereichen des Lebens seinen Stempel aufgedrückt. Aus öffentlichen Kunstsammlungen wurden tausende Werke als verfemt gebrandmarkt und entfernt. Mit der Literatur war es nicht viel anders. Der Begriff „entartete Kunst“, den die Nazis geprägt hatten, umfasste alles, was ihrem Weltbild widersprach und nicht in Hitlers Propaganda passte. Die Gemälde und Zeichnungen, die diesem Verständnis nach entartet waren, wurden verbrannt, ebenso die Bücher. Das Werk vieler bedeutender Künstler wurde so zum Flammenfraß und die Künstler selbst gerieten grossteil in Vergessenheit. Auch die Filmbranche hatte klare Vorgaben. Eine Ausnahme bildete der „Jahrhundertfilm“, der aus Amerika kam – „Vom Winde verweht“. Dessen Premiere, die im Kriegs-Deutschland am 14. Dezember Premiere hatte, war umjubelt. Ansonsten waren Propaganda-Filme angesagt oder Filme, in deren Mittelpunkt Romanzen und Heimatgeschichten standen. Mit Veit Harlan hatten die Nazis einen exzellenten Propaganda-Regisseur, der in ihrem Sinne Filme drehte. Im Folgejahr war das beispielsweise „Jud Süß“, mit dem dann auch dem letzten Kinobesucher klargemacht werden sollte, wie wichtig es war, für die Juden eine „Endlösung“ zu finden. Bunt und politisch unverfänglich sorgte auch ein US-amerikanischer Film in deutschen Kinos für Furore – „Der Zauberer von Oz“, ein Musical-Film mit Judy Garland in der Hauptrolle. Ein Abenteuerfilm deutscher Herkunft, der 1939 herauskam, war der Streifen mit Hans Albers in der Hauptrolle „Wasser für Canitoga“. Den Hauptdarsteller hatte man allerdings erfolgreich gedrängt, sich von seiner Lebensgefährtin, Hansi Burg, zu trennen, die eine deutsch-österreichische Schauspielerin gewesen war. Sie war zudem die Tochter seines jüdischen Mentors Eugen Burg. Offiziell hat sich Albers tatsächlich von ihr getrennt, aber er lebte weiter mit ihr am Starnberger See in Bayern. Albers war nach wie vor im Filmgeschäft beschäftigt, mied aber das Theater, um dem Einfluss der Nationalsozialisten zu entgehen.
Musiker hatten es in jener Zeit ebenfalls nicht leicht. Die Reichsmusikkammer hatte bekannt gegeben, dass unerwünschte Musikwerke, künftig in einer Liste geführt werden müssten, so ihre Verlegung und Aufführung verboten war. Komponisten jüdischer Herkunft hatten keine Chance, mit ihrer Kunst ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Meist hatten sie nicht einmal Gelegenheit zu überleben. Sie waren der Verfolgung der Machthaber ausgesetzt und fristeten ihr Dasein in verschiedenen KZs. Das war in Deutschland so und auch in den Ländern, die mit Deutschland verbündet gewesen waren. Es ist kaum zu benennen, wie groß der Verlust an Musik jüdischer und halbjüdischer Komponisten ist, die das Nazi-Regime nicht überlebten.
Das Jahr 1939 hatte im Vatikan einen Wechsel auf dem Heiligen Stuhl zufolge. Pius XI. starb am 10. Februar. Der Kardinalssekretär Eugenio Pacelli trat dessen Nachfolge nach dem dritten Wahlgang des Konklaves an. Er gab sich den Namen Pius XII. und wurde zu dem Papst, der durch den gesamten Zweiten Weltkrieg hindurch bis 1958 das Pontifikat innehatte. Während die Wahl des neuen Papstes weltweit begrüßt wurde, hielt sich die Begeisterung der Nationalsozialisten in Grenzen. Als eine von sehr wenigen Regierungen schickte das NS-Regime keine Delegation zur Amtseinführung nach Rom. Der „Völkische Beobachter“ ließ verlauten, dass von für Deutschland von diesem Papst nichts zu erwarten sei. Dem deutschen Botschafter beim Vatikan versicherte der neu gewählte Pontifex seinen Wunsch für Frieden zwischen Kirche und Staat. Die Regierungsform der Diktatur wäre nicht hinderlich, da die Kirche nicht berufen sein, zwischen politischen Systemen zu wählen. Das war eine Aussage, die für Deutschland keine Unterstützung seitens des Vatikans beinhaltete. Die katholische Kirche Frankreichs und die Vertreter der Kirchen der Westmächte hatten von Pius XII. eine päpstliche Verurteilung erwartet. Sie blieb aus. Das führte zu offener Kritik an dessen Amtseinführung. Drei Mal wurde
vom französischen Botschafter im Vatikan verlangt, dass der Papst den bevorstehenden deutschen Angriff auf das katholische Polen verdammen solle. Der Papst blieb neutral. Beinahe wäre er aber im Sommer 1939 nach Berlin und Warschau gereist, tat es dann aber nicht, sondern schickte aus Rom einen Appell an die Regierungen in Polen und Deutschland, dass sie die Spannungen nicht verschlimmern mögen. Zu jenem Zeitpunkt war aber schon alles zu spät. Beide Seiten hatten längst mit der Mobilmachung begonnen.
Während seit September die ersten Kriegstoten, die für ihr deutsches Vaterland gefallen waren, gemeldet wurden, ereignete sich in der Türkei ein derart schweres Erdbeben, das am zweiten Weihnachtstag etwa 30.000 Menschen in den Tod gerissen wurden. Die Ereignisse in Deutschland, vor allem die Verletzungen des Versailler Vertrages, waren von der Türkei mit Verständnis aufgenommen worden. Das änderte sich erst mit dem Einmarsch in Polen und veränderte die politische Stimmung. Doch noch waren die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland nicht gefährdet. Zwischen Deutschland und Polen waren die Kämpfe unversöhnlich. Die Wehrmacht war von Anfang an mit grausamer Härte gegen die Polen vorgegangen, hatte dabei auch Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet. Sie rechtfertigte das mit angeblichen Partisanenüberfällen und Gräueltaten, die von Polen an deutschen Zivilisten verübt worden waren. Wenngleich der Blitzkrieg im selben Monat endete, in dem er begonnen
hatte, war der Krieg damit noch längst nicht zu Ende. Von deutscher Seite waren die menschlichen Verluste in Polen als „gering“ eingestuft worden. Nur 30.000 Verwundete, und 3.400 Vermisste hatte es gegeben. Doch die rund 10.6000 Gefallenen würden von ihren Familien wohl auch schmerzlich vermisst werden. Die Verluste auf Seiten der polnischen Armee waren noch größer. Sie hatten nicht nur gegen die deutsche Wehrmacht kämpfen müssen, sondern auch gegen die Rote Armee aufgrund des zwischen Hitler und Stalin geschlossenen Paktes. Ungefähr 120.000 polnische Soldaten waren umgekommen, fast eine Million wurden Kriegsgefangene.
In Deutschland wurde der siegreiche Beginn des Zweiten Weltkrieges bejubelt, jedenfalls von den meisten. Das wahre Ausmaß war noch nicht absehbar.
Das Operettenlied aus dem amüsanten Stück „Der schwarze Hecht“, das später ein Evergreen wurde – „Oh, mein Papa“ – war 1939 gewiss nicht als Klagelied konzipiert worden. Schließlich war es ein Lied aus dem Zirkusmilieu. Und der Krieg war alles andere als nur ein Zirkus.
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