Das Musikjahr 1923 - Die Charleston-Premiere
Am 29. Oktober 1923 wurde auf der Bühne des New
Yorker Broadway-Theaters New Colonial ein Stück
Kulturgeschichte geschrieben. Das Comedy-Musical „Runnin´
Wild“ (Musik: James P. Johnson, Text: Cecil Macks)
hatte Premiere und präsentierte dem Publikum ein
lebensfrohes Tanzmusikstück, das zum tonalen Symbol
für eine ganze Ära werden sollte: „The Charleston“.
Der 1894 geborene James Price Johnson war ein
afroamerikanischer Pianist, der als Erfinder des
Stride-Piano-Stils berühmt wurde. Dieser aus dem
Ragtime entwickelte frühe Jazz-Stil setzte
erhebliche Handgeschicklichkeit und
Improvisationsfähigkeit beim gleichzeitigen
linkshändigen Bass-und-Harmonie-Intonieren und
rechtshändigen Melodie-Spielen voraus.
Johnson hatte
sich bei der Schöpfung seiner epochalen
Tanzmusik-Schöpfung vom Stakkato der Dampfhämmer auf
den Werften der Hafenstadt Charleston, South
Carolina, inspirieren lassen. Der zu den Klängen von
„The Charleston“ passende gleichnamige Tanz übernahm
wesentliche Elemente des bei den Afroamerikanern
seit Mitte des 19. Jahrhunderts populären Tanzes
Juba. Der überaus schnelle, sowohl solo als auch
paarweise tanzbare Charleston wirkte wegen seiner
nahezu akrobatischen Verrenkungen, dem rasanten
Wechsel von X- und O-Bein-Stellungen und dem
betonten Rudern der Arme auf konservative
Zeitgenossen überaus befremdlich. Dennoch oder
vielleicht auch deswegen traf Charleston den Nerv
der Zeit und wurde rasch zu einem überaus beliebten
Gesellschaftstanz.
Die US-Hits und Charts 1923
Zu den großen US-Hits gehörte 1923 das in etlichen
Versionen produzierte, von Irving Cohn und Frank
Silver komponierte „Yes! We Have No Bananas“, das im
Vorjahr im Musical „Make It Snappy“ erstmals dem
Publikum vorgestellt worden war. Sowohl Ben Selvin &
His Orchestra als auch Billy Jones, einer der beiden
durch ihr Radioprogramm landesweit bekannten „Happiness
Boys“, landeten mit ihren „Bananas“-Varianten
Nr.1-Hits in den USA. In Deutschland wurde im selben
Jahr aus „Yes! We Have No Bananas“ der Gassenhauer
„Ausgerechnet Bananen“. Den ersten von etlichen
deutschen Bananen-Versionen sang der Berliner
Volksschauspieler Willi Rose. Den Text schrieb der
1942 in Auschwitz ermordete Fritz Löhner-Beda. Der
südfruchtige, im Foxtrott-Modus geschriebene Hit war
auch ein beliebter Shimmy-Tanz des Jahres.
Zu den Hitmachern in den USA gehörten auch Paul
Whiteman & His Orchestra mit „Ill Build A Stairway
To Paradise“, „Parade Of The Wooden Soldiers“ und „Bambalina“
sowie der Barber-Shop-Song „That Old Gang Of Mine“
von Billy Murray & Ed Smalle. Ted Snyder glückte mit
dem 1923 vorgestellten und in den Folgejahrzehnten
regelmäßig gecoverten „Who's Sorry Now?“ ein sehr
langlebiger Musikerfolg. Al Jolsons überdrehtes „Toot
Toot Tootsie Goodbye“ konnte an seine bereits 1922
bewiesene Charts-Qualität anknüpfen und Eddie Cantor
besang seine Liebe mit „No, No, Nora“ so gekonnt,
dass Millionen begeistert waren. Gefallen fand auch
der gefällige Banjo-Waltz „Dreamy Melody“ von Art
Landry & Orchestra.
Mit dem schwermütigen „Down Hearted Blues“, der die
Tragik unerwiderter Liebe thematisierte, besang die
bald den Beinamen „Empress of Blues“ tragende
afroamerikanische Sängerin Bessie Smith ihre erste
Schallplatte. „Down Hearted Blues“ stand vier Wochen
an der Spitze der Billboard-Charts, erreichte enorme
Verkaufszahlen und machte die damals 29-jährige
Bluessängerin Bessie Smith zum Star.
Das erste Radio in Deutschland 1923
In der in diesem Jahr von politischen Krisen
besonders schwer betroffenen Weimarer Republik wurde
1923 der Grundstein für eine die Musik-Entwicklung
in Deutschland im 20. Jahrhundert und darüber hinaus
wesentlich mitbestimmende Erscheinung gelegt: Dem
deutschen Kommerz-Rundfunk. Am 29. Oktober nahm die
„Aktiengesellschaft Funkstunde Berlin“ im Vox-Haus
ihren Betrieb auf. Es gab somit das
erste Radio in Deutschland. Das gleichzeitig gegründete
Orchester des Funk-Stunde Berlin entwickelte sich
1925 zum Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin.
Rundfunk war das Medium der Zukunft. Allerdings
hatte die Funkstunde AG als erster Hörfunksender
Deutschlands Ende Dezember erst etwa 500 zahlende
Hörer.
Noch waren andere Musik-Plattformen erheblich
bedeutsamer. Besonders beliebt war in Deutschland
der 20er Jahre die Musikform der Operette. Diese
meist komödiantische Mischung aus leichten Melodien
und Sprechtheater zog auch Bevölkerungsschichten in
die Musiktheater, für die klassische Opern ein Graus
waren. Operetten-Hits des Jahres 1923 waren unter
anderem das Robert-Stolz-Werk „Mädi“ und Franz
Lehars Romantical „Die gelbe Jacke“, für das Fritz
Löhner-Beda als Texter verantwortlich zeichnete. Bei
der am 17. November in Wien Premiere feiernden
Operette „Die Perlen der Cleopatra“ standen mit dem
gern Monokel tragenden „König des Belcanto“ Richard
Tauber und dem Ehepaar Fritzi Massary und Max
Pallenberg gleich drei damalige Superstars der
leichten Muse gemeinsam auf der Bühne.
Sonstiges im Musikjahr 1923
Am 30. Mai des Jahres hat die Musikwelt den Verlust
des französischen Dirigenten so wie Komponisten
Camille Chevillard zu betrauern. Außerdem sterben
auch der französische Operettenkomponist Claude
Terrasse (30. Juni) und der dänische
Dirigent/Komponist Asger Hamerik (13. Juli) in
diesem Jahr.