Das Musikjahr 1924 – Mörderlieder, Jazz aus den
USA und Mitsummen
US-Starsänger Al Jolson glänzte 1924 mit zwei
Meisterstücken sentimentaler Musik. Außer mit dem
tränenrührigen „I Wonder What's Become Of Sally“
gelangte Al Jolson mit "California, Here I Come" an
die Spitze der Billboard-Charts. Das im Musical „Bombo“
1921 uraufgeführte 2:27-Stück war 1924 als B-Seite
von „I´m Goin´ South“, einem weiteren Al-Jolson-Hit
des Jahres, auf dem Markt gekommen. Der Kalifornien
bejubelnde Song („That´s the place that I love best
of all.“) wurde zur inoffiziellen Hymne des „Golden
State“ an der Westküste der USA (Offizielle Hymne:
„I Love You, California“).
Arthur Gibbs & His Band waren die ersten Musiker,
die das im Vorjahr im Musical „Runnin´ Wild“ am
Broadway mit sensationellem Erfolg aus der Taufe
gehobene Tanzmusik-Stück „The Charleston“ auf
Schallplatte herausbrachten. Charleston-Komponist
und Pianist James P. Johnson selbst hat
merkwürdigerweise nie eine eigene Platten-Version
des von ihm
geschaffenen Soundtracks der Goldenen
Zwanziger („Roaring Twenties“) produzieren lassen.
Riesenerfolg konnte 1924 auch „The red-headed Music
Maker“ Wendell Hall mit dem ersten Country-Song, der
ein Millionen-Seller geworden ist, verbuchen. Sein „It
Ain't Gonna Rain No Mo'“ verkaufte sich mehr als
zwei Millionen Mal und führte die Charts sechs
Wochen lang an.
Zu einer Hitmaschine des Jahrzehnts entwickelte sich
die Banjo-Band Fred Warings Pennsylvanians, die 1924
mit dem schlummerigen „Sleep“ und dem schmelzigen „Memory
Lane“ träumerische Gute-Laune-Musik anboten. Spaß
versprachen die zahlreichen Broadway-Musicals des
Jahres. Besonders beliebt waren das
Zelda-Sears-Stück „Lollipop“ und „Lady, Be Good“. In
„Lady, Be Good“ spielte das Geschwisterpaar Adele
und Fred Astaire die Hauptrollen. Bruder und
Schwester hatten seit früher Kindheit gemeinsam auf
Vaudeville-Bühnen für Unterhaltung gesorgt. Sie
traten auch nach dem Erfolg in „Lady, Be Good“, der
für sie einen enormen Popularitätsschub bedeutete,
weiterhin zusammen auf bis Adele 1932 einen
englischen Herzog heiratete und Fred Astaire seine
Solo-Weltkarriere begann.
Gut im Geschäft waren 1924 auch die seit Jahren
Nr.1-Hit-verwöhnten Bands Isham Jones & His
Orchestra („Spain“, „It Had To Be You“) und Paul
Whiteman & His Orchestra („Linger Awhile“, “What'll
I Do?“, Indian Love Call“, „Rose Marie“, „Somebody
Loves Me“). Paul Whiteman trug 1924 wesentlich dazu
bei, dem 25-jährigen Ausnahme-Komponisten George
Gershwin zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen.
Whiteman hatte Gershwin Ende 1923 gebeten, ein
Klassik und
Jazz verbindendes Werk zu komponieren.
Die von Paul Whiteman & His Orchestra und Gershwin
(am Klavier) gemeinsam intonierte, am 12. Februar
1923 in Manhattan uraufgeführte „Rhapsody In Blue“
wurde zu einem Meilenstein in der Musikgeschichte
des 20. Jahrhunderts. Die neuartige Mischung aus
Jazzelementen und klassischer Sinfonik stieß
zunächst auf überaus gegensätzliche Kritiken, machte
Gershwin aber letztlich berühmt.
Völlig anders ausgerichtet war der deutsche
Top-Schlager 1924. In einer makabren Reihe mit dem
den Mord an Rosa Luxemburg 1919 verhöhnenden „Es
schwimmt eine Leiche im Landwehrkanal“, dem
zynischen 1975er Honka-Song „Gern hab ich die Frauen
gesägt“ und anderen Mörder-Liedern bediente das
„Haarmann-Lied“ das offensichtlich weit verbreitete
Bedürfnis, sich musikalisch über Mörder und ihre
Opfer lustig zu machen.
1923 hatte einer der ganz Großen der leichten Muse,
der Operetten-Komponist Walter Kollo, in seiner im
Berliner Metropol-Theater uraufgeführten Operette
„Marietta“ den rasch zum Mitsumm-Evergreen
aufgestiegenen Schlager „Warte, warte nur ein
Weilchen“ vorgestellt. Ein Jahr später machte der
Hannoveraner Massenmörder Fritz Haarmann, dem der
Mord an 24 Knaben und jungen Männern vorgeworfen
wurde, Schlagzeilen. Haarmann wurde zum Tode
verurteilt und geköpft. Die nie bestätigte
Vermutung, dass Haarmann, der die Leichen seiner
Opfer zerstückelt hatte, Körperteile zu Hackfleisch
zerkleinert habe, um es in Fleischkonservendosen zu
verkaufen, hat die damalige Bevölkerung besonders
fasziniert. Der grausige Fall inspirierte den
Volksmund, zur Kollo-Melodie verschiedene
Textvarianten zu bilden.
Begeistert wurden wohlige Gruselschauer genossen bei
Zeilen wie „Warte, warte nur ein Weilchen, bald
kommt Haarmann auch zu dir, mit dem kleinen
Hackebeilchen, macht er Schabefleisch aus dir“.
Gefälliger waren da schon die Erfolgsmelodien der
1924er Operetten-Novitäten im deutschsprachigen
Sprachraum. Franz Lehár erhielt im Wiener
Burgtheater für die Uraufführung des
konventionell-harmlosen Dreiakters „Clo-Clo“ (später
in „Lolotte“ umbenannt) Beifall. Sein Kollege, der
gebürtige Ungar Emmerich Kálmán, einer der
Hauptverantwortlichen für das durch unzählige
paprika-spaßige Musikstücke im deutschem Kulturraum
etablierte Stereotyp vom ständig gutgelaunten,
Czardas tanzenden Magyaren, gelang mit seiner
Operette „Gräfin Mariza“ ein großer Wurf. Mit „Komm
mit nach Varasdin“ und „Komm, Zigan“ wurden zwei „Mariza“-Lieder
viel geträllerte Gassenhauer.
Anspruchsvolleres Hörverhalten wurde den
Premieren-Gästen von zwei lange vor 1924
vollendeten, aber bis dahin noch nie zur Aufführung
gelangten Musikwerken abverlangt. Sein halbstündiges
Einpersonenstück „Erwartung“ hatte der Wiener
Zwölfton-Technik-Begründer Arnold Schönberg zwar
schon 1909 durchkomponiert, zur Uraufführung kam es
aber erst am 6. Juni 1924 in Prag. Noch länger
musste Anton Bruckners „Nullte Sinfonie“ aus dem
Jahr 1869 auf ihre Bühnentaufe warten: Bei der
Premiere in Klosterneuburg zu Ehren von Bruckners
100. Geburtstag war der Komponist bereits 28 Jahre
tot.
Hits des Jahres 1924
Zu den Hits des Jahres 1924 gehörte vor allem der
"St. Louis Blues" von
Bessie Smith und Louis
Armstrong und "Indian Love Call" von Paul Whiteman
and Orchestra. Außerdem "Fascinatin' Rhytm" von
George Gershwin und "Tea for Two" von Marion Harris.
Des Weiteren war auch "California Here I Come" von
Benny Goodman in diesem Jahr ein absoluter Hit.
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