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Literaturjahr 1915
Literatur in Deutschland
Für Lord Chandos, besonders bekannt durch seinen „Chandos-Brief“,
war Denken und Artikulieren nur in einer Sprache
möglich, die noch nicht existierte. So beinhaltete
sein Brief eine Kritik an den konventionellen
Sprachgewohnheiten, da er stark bezweifelte, dass
sich die Wirklichkeit überhaupt durch Sprache
ausdrücken ließ.
Eine Richtung, die dem Brief entgegenkam, war der
Expressionismus. Beginnend mit dem
Frühexpressionismus war er im Grunde eine
Aufbruchsstimmung und Bewegung, die sich Anfang des
20. Jahrhunderts zum ersten Mal ankündigte und über
die Jahre, bis 1920, ihren Verlauf nahm, ihre
Wirkung entfaltete.
Der Expressionismus stand für Ausdruckskunst, der
zunächst in der Malerei auftrat, dann in die
Literatur wechselte, geprägt und übertragen durch
Kurt Hiller. Diese literarische Strömung stand
insbesondere dem Naturalismus, Symbolismus und
Impressionismus gegenüber, sprach sich für neue und
radikale Veränderungen aus, repräsentierte ein neues
Lebensgefühl. Ab 1915 wechselte der
Frühexpressionismus dann in den so bezeichneten
Kriegsexpressionismus.
Das rasante und durch den Weltkrieg bestimmte,
unstete Leben, das mit einem Überschwang an Gefühl
verdeutlicht gehörte, Protest gegen die Gewalt, die
bürgerliche Autorität, die Mechanisierung und die
Bedrohung des Geistes war, fand in dieser Strömung
ihren Höhepunkt, zumal die Expressionisten alle
Arten des Denkens ablehnten, die erklärbar oder
logisch nachvollziehbar waren. Da kam es vor, dass
mitten im Satz auf einmal Eisenbahnen von den
Brücken kippten, weil die meisten Menschen Schnupfen
hatten.
Wichtig wurde das Erfassen des Wesens hinter den
Dingen, der Ausdruck in der Literatur war rein
subjektiv, durch Pathos gezeichnet. Grammatische
Regeln wurden dabei über den Haufen geworfen, wo
zunächst Lyrik und Prosa den Expressionismus
verkörperten, wechselte dieser dann zum Drama.
Einer, der dieser Bewegung zahlreiches Material
beigesteuert hatte, war z. B. der Dichter August
Stramm. Er starb 1915.
Ebenso fiel Kafka durch einige seiner Werke in diese
Kategorie, der 1915 „Die Verwandlung“
veröffentlichte, ein kleines Meisterwerk mit dem
einprägsamen ersten Satz:
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen
Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu
einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“
Die Erzählung erschien zunächst in der
Literaturzeitschrift „Die Weißen Blätter“, dessen
Redakteur René Schickele war, Ende des Jahres dann
auch in Buchformat. Kafkas Metapher auf den
oberflächlichen Blick auf die äußeren Dinge, ohne
den Wert der inneren wahrnehmen zu wollen,
repräsentierte seine Zeit der Trauer und Schwermut
hervorragend. Gleichzeitig beinhaltete das Werk die
Ausweglosigkeit einer zwischenmenschlichen
Beziehung, von der Kafka durch den Konflikt zu
seiner Familie und zum Vater paralysiert war.
Auch Gottfried Benn steuerte zum Expressionismus
seine Dichtung „Gehirne“ bei, die unter anderem auch
durch die Einnahme von Kokain inspiriert war. Benn
selbst hatte als Arzt und beim Militär genügend
Zeit, die Menschenverachtung so mancher Offiziere
mitzuerleben und verfasste darüber eine Montage an
Gesprächsfetzen, die er „Kasino“ nannte. Die
Erfahrungen, die Benn dann in den Feldlazaretten,
wie auch später als Arzt in einem Krankenhaus für
Prostituierte sammelte, flossen in die „Rönne-Novellen“,
veröffentlicht unter dem Titel „Gehirne“.
In diesem so kargen Jahr für die Literatur brachte
Alfred Döblin sein Werk „Die drei Sprünge des
Wang-lun“ heraus. Döblin war Arzt und
Schriftsteller, erlebte während des
Ersten
Weltkriegs als Augenzeuge die Berliner Märzkämpfe,
diente als Militärarzt in einem Seuchenlazarett.
Zwei wichtige Werke entstanden zu dieser Zeit.
Einmal sein „Wallenstein“ und der umfangreiche Roman
„November 1918“. Carl Sternheim wiederum schrieb
seit vier Jahren an seinem „Heldenleben“, das er
1916 zu Ende brachte.
Den Literaturnobelpreis für das Jahr 1915 erhielt
der Franzose Romain Rolland, ein Schriftsteller, der
von Sartre in seinen Briefen häufiger gelobt wurde.
Den Preis überreicht bekam Rolland erst ein Jahr
später. Er war bekannt für seine zahlreichen
Biografien über Künstler wie Michelangelo,
Komponisten wie Beethoven oder Händel. Auch schrieb
er Dramen, veröffentlichte verschiedene Schriften
zur Kunstgeschichte, später seine Memoiren und
schrieb Romane, darunter den preisgekrönten
„Jean-Christophe“. Das Geld für den Nobelpreis ließ
Rolland dem Roten Kreuz zukommen. Seine Romane
zeichneten sich durch seine Menschenliebe und seinen
Idealismus aus.
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