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Literaturjahr 1910 Literatur in Deutschland


Während der Halleysche Komet die Umlaufbahn der Erde passierte, wurde 1910 in Portugal die Monarchie und in Deutschland die Todesstrafe abgeschafft. Letzteres führte zu großen Diskussionen. Die erste Weltausstellung fand in Brüssel statt und war ein sensationeller Erfolg.
Unterdessen begann Thomas Mann seine „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ und Rainer Maria Rilke vollendete seine „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, das einzige Prosastück des Dichters, in dem er eine innere und assoziative Wanderung durch die Zweifel, Ängste und Kreativität eines fiktiven und dichtenden Ich-Erzählers mittels einundsiebzig tagebuchartiger Aufzeichnungen vollführt. Begonnen hatte Rilke dieses Werk bereits 1904 und beeinflusst hatte es einige Nachkommen, insbesondere jene, die sich in dieser poetischen Weltverlorenheit gefielen. Rilkes Nicht-Roman wurde als Schlüsseltext verstanden, der in seiner radikalen Schreibweise Einfluss auf die moderne Literatur hatte.
Von dem Russen Iwan Bunin erschien 9010 der kleinere Roman „Das Dorf“. Bunin war ein großer Stilist, seine Landschaften von beeindruckender Tiefe und Poesie. In „Das Dorf“ widmete er sich dem Leben zweier unterschiedlicher Brüder, während die Handlung eigentlich keine richtige ist. Der Roman ist vielmehr eine Aneinanderreihung von Eindrücken, gleich Fotos, die man in einem Album betrachtet. Ganz Russland, hieß es dort, sei ein Dorf. Grundthema war der Untergang russischer Traditionen. Bunin nannte seinen Roman viel eher ein Poem. Das aber trifft sicherlich auf all seine Werke zu, die poetische Bilder voller russischer Tristesse entfalten.
Den Nobelpreis für Literatur erhielt der deutsche Schriftsteller und Dichter Paul Heyse. Seine Romane lesen sich auch heute eigenartig aktuell, sind poetisch und gleichzeitig von erzählerischer Kraft, behandeln dennoch häufig historische Themen oder die griechische Mythologie. Er erhielt den Preis für sein Gesamtwerk, seinen Idealismus und für seinen Blick auf das Künstlertum.
Es verstarb 1910 einer der größten russischen Schriftsteller aller Zeiten, Leo Tolstoi, der mit seinen Romanen „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ zu den meistgelesenen Klassikern weltweit wurde. Tolstoi war kurz vor seinem Tod aufgebrochen, um sein gewohntes und, in seinen Augen, zu bequemes Leben endgültig hinter sich zu lassen. Er landete auf einer kleinen Bahnstation in Astapowo, wo er durch die windige Zugreise an Lungenentzündung starb. Tolstoi hatte im Laufe seines Lebens eine große emotionale und geistige Veränderung durchgemacht. Er wollte nicht mehr der adlige Grundbesitzer sein, sondern sein Hab und Gut verschenken, ohne Besitz sein, um von seiner eigenen Hände Arbeit zu leben. Aus seinen Überzeugungen wurde in Russland ein Kult, die Bewegung der Tolstojaner, Anhänger, die das Haus des alten Greises besiedelten und großen Einfluss auf sein Erbe und Testament hatten, darunter auch eine der Töchter Tolstois, Alexandra, die schließlich Alleinerbin des gesamten literarischen Nachlasses wurde, um im Sinne ihres Vaters, nicht ihrer Mutter, zu handeln. Durch die Rechte an einer Gesamtausgabe z. B. konnte Alexandra Ländereien an die Bauern verschenken, wie es ihr Vater gewünscht hätte. Die Bewegung der Tolstojaner, die nach christlichen Motiven handelten, sich ausschließlich vegetarisch ernährten und in Landkommunen lebten, ging auch über Russland hinaus, erreichte z. B. Mahatma Gandhi, der sich in seiner Jugend viel mit Tolstoi beschäftigt hatte, oder die israelische Kibbuz-Bewegung. Viele fühlten sich von Tolstois Einstellung und Lehren beeinflusst, während der große Russe Abstand von dieser Entwicklung nahm und den Dingen ihren Lauf ließ.
Auch die deutschen Schriftsteller Wilhelm Raabe und Otto Julius Bierbaum, der Franzose Jules Renard, dessen Tagebücher eine wunderbare poetische Lektüre sind, und der Amerikaner Mark Twain, unvergesslich durch seinen Roman „Tom Sawyer oder Huckleberry Finn“, starben 1910. Twain hatte eine eigenartig starke Verbindung zum Halleyschen Kometen und erlebte ihn gleich zweimal, denn dieser wurde zum ersten Mal in seinem Geburtsjahr 1835 gesichtet und kehrte in seinem Todesjahr wieder in die Erdumlaufbahn zurück.
1910 verunsicherte der Komet viele Leute, trug zu einer großen Panikmache bei, die von der Presse auch geschürt wurde und letztendlich und künstlerisch gesehen den literarischen Expressionismus herbeiführte.

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