Literaturjahr 1909
Literatur in Deutschland
Mit der Veröffentlichung seines Manifestes im „Le
Figaro“ schuf Filippo Tommaso Marinetti 1909 den
Futurismus. Diese Literatur- und Kunstrichtung
wollte, wie die meisten Bewegungen Anfang des 20.
Jahrhunderts, ein neues Weltbild schaffen, mit den
Traditionen brechen, neue Formen kreieren. Die
Veränderung musste radikal sein. Marinetti
verkündete in seiner Schrift die vollkommende
Ablehnung einer künstlerischen und politischen
Vergangenheit. Das beinhaltete auch, dass die
Gesellschaft und die gültigen Regeln in ihr zerstört
gehörten, um Platz für eine neue Zukunft zu
schaffen, die im Fortschritt, in der
Industrialisierung und in radikalen Umschwüngen als
Kult der Geschwindigkeit ihren Weg zu gehen hatte,
verherrlicht und heraufbeschworen durch die Symbolik
des Futurismus‘.
An einer anderen literarischen Spielform versuchten
sich mehrere Autoren als ein Gemeinschaftsprojekt,
das 1909 unter dem Titel „Der Roman der XII“
erschien. Die Idee dahinter war, dass nicht alleine
ein Schriftsteller, sondern mehrere, in diesem Fall
gleich zwölf, den Roman schrieben, wobei sich der
Nachfolger immer an der Idee des Vorgängers zu
orientieren hatte. Der Organisator war Hanns Heinz
Ewers, die Autoren u. a. Hermann Bahr, Otto Julius
Bierbaum, Gustav Meyrink, Otto Ernst und Friedrich
Hollaender. Das Ganze sollte ein literarischer
Scherz werden, spannender dadurch, dass die Namen
der Mitmachenden zwar bekannt waren, jedoch nicht
sichtbar, in welcher Reihenfolge sie schrieben. Das
Lesepublikum eines Berliner Verlags sollte erraten,
welcher Text von welchem Schriftsteller stammte.
Thomas Mann zeigte sich u. a. begeistert über eine
solche Idee. Der Roman wurde zwar kein großer
Erfolg, jedoch von da an in seinem Grundmuster
häufig nachgeahmt.
Von Robert Walser erschien der dritte Roman „Jakob
von Gunten“, ein anderes Meisterstück aus der Hand
des ewigen Spaziergängers, der auf diesem Weg auch
im Schnee starb, in dem sich der junge Protagonist
einer eigenen träumerischen Welt stellen musste, auf
der Suche nach dem Glück. Der Roman war als fiktives
Tagebuch angelegt, das über den Aufenthalt in einer
Dienerschule berichtete. Walser verarbeitete hier
eigene Erfahrungen.
Heinrich Mann wiederum schrieb an dem Roman „Die
kleine Stadt“. Der Trupp einer Oper brachte darin
eine neue Lebensfreude und Freiheit in die Stadt der
Handlung. Mann zeigte sich hier erneut als großer
Stilist, der sich auch so mancher Sentimentalität
nicht schämte, die umso besser gelang.
Ein beeindruckendes Werk verfasste 1909 der Zeichner
und Künstler Alfred Kubin. Das düstere, diesmal
geschriebene Bild nannte er „Die andere Seite“.
Der Protagonist darin folgte einer Einladung in ein
ihm unbekanntes, von mächtigen Mauern umgebenes
Schattenreich, in dem alle Menschen anders agierten,
als üblich, Tiere herrschten, Lichtgestalten
auftraten. Er wurde von seiner Frau begleitet, die
auf der Reise starb. Diese Szene war darum auch
hintergründig, da Kubin im echten Leben seine
Ehefrau verloren hatte und an schweren Depressionen
litt. Im Buch ereignete sich der Tod fast
emotionslos, offenbarte damit eine jener dunkel
verklärten Seiten des Künstlers. Das Schatten- und
Traumreich versank nach und nach in Sümpfen und
unter einer grauen Schicht am Himmel, blieb
gleichzeitig auch Kubins einziges
schriftstellerisches Werk.
Ebenfalls in Nebel spielte der 1909 erschienene
Roman von Pío Baroja, kein Wunder, behandelte er
schließlich die Stadt London. „Stadt im Nebel“ war
der Titel des Buches, in dem eine Erzählerin ihre
Ankunft in England schilderte, bis der
Schriftsteller einen interessanten Perspektivwechsel
vornahm und die Geschichte schließlich aus der
eigenen Sicht weitererzählte.
Ein weiterer Meister des Nebels, nämlich der Russe
und Symbolist Andrej Bely, dessen Werk „Petersburg“
in einer ähnlichen Atmosphäre spielte, schrieb 1909
seine „silberne Taube“, ein mit eigenartigen Figuren
bevölkerter Roman, denen die Vernunft bald gänzlich
abhandenkam. Bely war in all seinen Romanen groß in
der poetischen Schilderung seiner Tiefen und
Untiefen. Ähnliches gab es zu seiner Zeit höchstens
bei Dostojewski. Bely wiederum lotete das
Unterbewusste ganz anders aus, die Zweifel, den
Selbstkampf fasste er in kurze Sätze mit mächtigen
Bildern, die genau auf den Punkt trafen, sich auch
gerne für den Geist des Lesers verschoben,
übereinander lagerten, auseinanderbrachen.
In Frankreich erschien von André Gide „Die enge
Pforte“, ein schöner Roman über die Entstehung und
das Scheitern einer Liebe. Das Werk war das erste,
das in einem Verlag publiziert wurde. Davor hatte
Gide sein Werk immer nur selbst finanziert und
herausgebracht.
Der Literaturnobelpreis 1909 ging an Selma Lagerlöf.
Damit war die Schriftstellerin die erste Frau, die
diesen Preis entgegennehmen durfte. Mit dem
Preisgeld war es Lagerlöf möglich, ihr Gut
zurückzukaufen, das ihr Vater durch Misswirtschaft
verloren hatte. Die Atmosphäre auf dem Land kam in
vielen ihrer Romane zur Geltung. Ausgezeichnet wurde
sie für ihren Idealismus und den Ideenreichtum ihrer
Werke.
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