Das Literaturjahr 2009 -
Wenn Schriftsteller auf einmal zu einem gefeierten
Shootingstar geraten, hat die Literatur eine neue
Stufe der gehobenen Vermarktung erreicht und
vermittelt gleichzeitig sogar Autoren an die Leser,
die zuvor noch als Insider galten. Das war 2009
durch den Literaturnobelpreis der Fall, den zu ihrer
eigenen Überraschung und Freude dann Herta Müller
entgegennahm. Ihre Bücher sind verknappte
Miniaturexperimente an Gefühl, Politik und
Wirklichkeit und poetische Reflexionen im Angesicht
des Grauens. Müllers Roman „Atemschaukel“ gehörte
dazu, reflektiert über die Deportationen in
ukrainische Arbeitslager unter Stalin und verdrängte
für eine Weile sogar die beliebte Fantasy-Reihe über
Vampire von
Stephenie Meyer von den oberen Rängen der
Bestsellerliste.
Die aus
Rumänien stammende Deutsche sagte, dass sie
im Dorf ihrer Kindheit der deutschen Minderheit
angehörte und ihre Familie immer als „kleine Nazis“
galt. Sie wuchs unter der Diktatur von Nicolae
Ceausescu auf und weinte vor Freude, als dieser
hingerichtet wurde.
Auch während des Studiums bekam Müller die
diktatorischen Maßnahmen zu spüren, weil die
Funktionäre versuchten, sie für die Spionage
anzuwerben und sie dann als Prostituierte
hinstellten, als sie ablehnte. 1987 zog Müller nach
Deutschland und erhielt zunächst einen gewaltigen
Kulturschock an bunt gewürfelter Freiheit, die so
ganz im Gegensatz zu den gewohnten grauen
Betonfassaden ihres Heimatlandes stand. Hier begriff
die Schriftstellerin zum ersten Mal, was ihr die
rumänische Diktatur genommen und vorenthalten hatte.
Leitmotive ihres ausgezeichneten Buches waren der
Hunger und das Heimweh. Lesungen der
Schriftstellerin sind mittlerweile sehr schnell
ausverkauft.
Tod, Alter, Krankheit und Sterben waren überhaupt
das große Thema der Literatur 2009. Nicht nur
erhielt der Autor Jens Petersen den
Ingeborg-Bachmann-Preis für sein Buch über das
Sterben „Bis dass der Tod“ und die Autorin Kathrin
Schmidt den Deutschen Buchpreis für „Du stirbst
nicht“, auch erschienen viele andere Romane über das
Thema, darunter Tilman Jens‘ Version über die
Demenzkrankheit seines Vaters, während besonders
erschütternd die Auseinandersetzung von
Christoph Schlingensief war, der mit der
Diagnose Lungenkrebs konfrontiert das Ganze
künstlerisch zu verarbeiten suchte, dazu auch
Tagebuch schrieb, das dann nach seinem Tod erschien.
Zu wissen, dass Krankheit zum Tod führte und wie die
Zeit dazwischen überbrückt werden musste, fand bei
Schlingensief auch Ausdruck in Schreien und
Verzweiflung. Dazu nahm er u. a. die Geräusche auf,
die im klaustrophobisch beengten Raum einer
Computertomografieröhre vorherrschten.
Richard
Wagners Musik, so hinterfragte der
Theaterregisseur, könnte einen Einfluss auf seine
Erkrankung gehabt haben, da sie Gefühle wecken
würde, die zuvor im Verborgenen schlummerten. Er
rief das Projekt „Geschockte Patienten“ ins Leben
als ein Netzwerk für die Unterstützung Kranker und
heiratete kurz vor seinem Tod seine langjährige
Lebensgefährtin.
Von Juli Zeh erschien 2009 „Corpus Delicti“, ein
Roman, der sich kritisch mit einer zukünftigen
Herrschaftsform und Gesundheitsdiktatur
auseinandersetzt, die jedoch auch direkte Bezüge zu
aktuellen Gesellschaftsproblemen hat und die Leser
und die gesamte Menschheit auffordert, über
Eigenverantwortung nachzudenken.
„Der Fliegenpalast“ von Walter Kappacher, „Ruhm“ von
Daniel Kehlmann, „Sanssouci“ von Andreas Maier und
„Der einzige Mann auf dem Kontinent“ von Terezia
Mora hatten ähnlich viel Erfolg, während Haruki
Murakami mit der Novelle „Schlaf“ ein sanft
poetisches Meisterwerk präsentierte, das über die
Schlaflosigkeit und den Tod reflektierte.
Peter Sloterdijk legte 2009 das gelungene
Werk „Du musst dein Leben ändern“ vor. Als groß
angelegter Essay über philosophische Lebensfragen,
den Glauben und den Seiltänzertraum von Nietzsche
und Rilke als Kunstmetapher verweist der Philosoph
auf den Menschen als Übenden, der sich selbst nur
durch das Üben erschaffen würde. Es geht darum,
religiöse Lehren zu verdichten und ihre
Gemeinsamkeit aufzuzeigen, ebenso sein eigenes
anthropologisches Menschsein-Modell vorzustellen.
Das Werk schaffte es sogar auf die Bühne und wurde
zwei Jahre später als Theateradaption uraufgeführt.
Eine spannende Roman-Trilogie stammte aus der Hand
des britischen Autors Tom Rob Smith. Nachdem 2008
„Kind 44“ herauskam, folgte 2009 „Kolyma“, das
weiter die stalinistische Zeit und die Tauwetterzeit
unter Chruschtschow zum Thema hatte. Den Abschluss
der Trilogie bildete dann „Agent 6“. Alle drei Bände
schafften es in die Bestsellerlisten des „Spiegels“.
Roberto Bolano schuf im Laufe seines Lebens sein
tausendseitiges „Opus Magnum“, das 2009 dann endlich
in deutscher Übersetzung unter dem Titel „2666“
erschien. Der chilenische Schriftsteller war bereits
seit vielen Jahren krank und starb 2004 an
Leberversagen. Bolano schrieb das Buch in fünf
Teilen und hatte eigentlich vor, diese mit einem
jährlichen Abstand zu veröffentlichen. So erhoffte
er sich mehr Gewinn für seine Familie. Seine Erben
gestatteten dann jedoch die Herausgabe des gesamten
Werks, wodurch „2666“ auch als Hardcover-Version
einiges wog. Es wurde international als Meisterwerk
gefeiert und war ein buntes Gemisch aus
Literaturwissen, Unterhaltung, Thriller und
Kriminalroman, für das der Autor, um das Buch zu
beenden, sogar eine lebenswichtige
Lebertransplantation verschob, wodurch er,
überspitzt formuliert, der Literatur sein Leben
opferte.
Noch um einige Seiten dicker war der Roman
„Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace, ein
literarisch aufgeblasener Simson-Comic mit
verspielten und experimentellen Elementen, der 2009
in deutscher Übersetzung von Ulrich Blumenbach
erschien und die moderne Gesellschaft in ihrer
ganzen Sinnlosigkeit, Drogensucht und Abhängigkeit
zeigt. Foster Wallace verband seine eher dürftige
Handlung mit etlichen bekannten literarischen und
cineastischen Bezügen, setzte an den Schluss seines
Buches noch einmal eine unendlich lange Liste an
Fußnoten, die dem Inhalt gegenüber fast an
Originalität überwog. Der Autor selbst nahm sich mit
nur 46 Jahren und geplagt von Alkoholsucht und
Depression das Leben. Er erhängte sich 2008 an einem
Balken seines Hauses. Tatsächlich gelang ihm der
Durchbruch dann auch erst nach seinem Tod mit dem
genannten Werk.
Der engagierte Verleger Siegfried Unseld hinterließ
nicht nur einen großen Verlag, sondern auch
herrliche Aufzeichnungen und Briefwechsel mit
führenden Größen der Literaturszene. Neben seinen
Briefen mit Peter Handke, Wolfgang Koeppen oder Uwe
Johnson ist der mit Thomas Bernhard sicherlich der
schönste und spanneste, da Bernhard ein Querkopf war
und dem Verleger etliches an Geduld und Zuspruch
abverlangte. Alle Briefwechsel haben ihre ganz
eigene Faszination. 2009 erschien der mit Bernhard,
der nicht nur Verzweiflung und Aderlass des
Schriftstellers zeigte, sondern auch Forderungen
nach Geld und Rechten.
Buch Bestseller 2009 Deutschland
Joanne K. Rowling – Die Märchen von Beedle dem
Barden
Charlotte Roche – Feuchtgebiete
Daniel Kehlmann – Ruhm
Stephenie Meyer – Bis(s) zur Mittagsstunde
Stephenie Meyer – Bis(s) zum Abendrot
Donna Leon – Das Mädchen seiner Träume
Stephenie Meyer – Bis(s) zum Ende der Nacht
Charlotte Link – Das andere Kind
Volker Klüpfel / Michael Kobr – Rauhnacht
Frank Schätzing – Limit
Dan Brown – Das verlorene Symbol
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