Das Literaturjahr 2008 - Feuchte Gebiete
Ob Literatur das Recht hat, auf den untersten Ebenen
des Erträglichen zu agieren, war 2008 eine häufig
gestellte Frage, die nicht konkret beantwortet
werden konnte. Sie wurde besonders durch das von
Charlotte Roche erschienene Buch „Feuchtgebiete“
hervorgerufen, das die Grenzen des Ekels erreichte
und sich mit dem Krankenhausaufenthalt der
Protagonistin beschäftigte, die an Hämorrhoiden litt
und dabei auf für den Leser verheerende Weise ihren
offenen Umgang mit dem eigenen Körper und
Sexverhalten präsentiert.
Behandelt werden Begriffe wie Eiter, Urin, Sperma
etc, verschiedene
Selbstbefriedigungspraktiken und Menstruationsblut.
Auch andere Tabuthemen werden gebrochen, wobei es
der Autorin darum ging, den übertriebenen
Reinlichkeitsfanatismus des modernen Menschen
aufzuzeigen, der auch häufig ein Hindernis bei der
sexuellen Begegnung sein kann. Roche behauptete,
dass etwa siebzig Prozent des Erzählten aus eigener
Erfahrung stammte. „Feuchtgebiete“ wurde zum
Bestseller, obwohl es zuvor noch vom Verlag
„Kiepenheuer & Witsch“ als zu pornografisch
abgelehnt wurde. Das zeigt, dass meistverkaufte
Bücher nicht immer auch einen qualitativ
hochwertigen literarischen Inhalt bieten müssen.
Neue Bücher 2008
Ein Science-Fiction-Roman, der 2008 von sich reden
machte und viel lobende Kritik einheimste, war „Die
Abschaffung der Arten“ von Dietmar Dath. Der
Journalist, Übersetzer und Autor legte damit ein
Werk vor, das er selbst als eine „Allesfresserform“
ausgab und das den Untergang der Menschheit zum
Inhalt hatte. Genauer wurden die Menschen durch
Tiere verdrängt, die als Gente bezeichnet werden und
ihr eigenes Erbgut modifizieren können. Das macht es
möglich, das eigene Geschlecht zu wechseln oder
Kopien von sich selbst zu erstellen. Die Biotechnik
bestimmt das Leben. Die Erde ist vom Menschen
befreit und damit auch das Tier. Es existieren
lediglich noch einige „Minderlinge“, die dann nur
noch Ansichtsexemplare sind, wie man es nicht machen
sollte. Der als Fabel angelegte Roman besticht durch
seinen Humor und die Unbekümmertheit. Dafür erhielt
er dann auch den „Kurd-Laßwitz-Preis“, der die
besten Fantasy- und Science-Fiction-Bücher kürt.
Neben Dath ging dieser ebenfalls an Sergej
Lukianenko für seinen Roman „Spektrum“ und an
Andreas Eschbach für das Buch „Ausgebrannt“.
Bestseller 2008 und das meist verkaufteste Buch
Das 2008 am meisten verkaufte Buch in Italien war
der Debütroman „Die Einsamkeit der Primzahlen“ des
italienischen Schriftstellers Paolo Giordano, der
auch in Deutschland Erfolg hatte. Das Buch wurde
zwei Jahre später verfilmt und erzählt die
Geschichte von Alice Della Rocca und Mattia
Balossino, die in ihrer Kindheit ein traumatisches
Erlebnis hatten und durch dieses stark geprägt
wurden. Es geht um Schicksal und um Bedingungen, die
die eigene Unbeschwertheit kosten. Beide
Protagonisten erkennen im anderen die eigene
Einsamkeit wieder.
Von Philip Roth erschienen 2008 „Exit Ghost“ und
„Empörung“. Während der eine Roman um Themen wie
Alter und Tod, geistigen Verfall und Lebenssinn
kreist, hinterfragt der andere ohne direkten Bezug
das politische Treiben in Amerika und die Totalität
einer zum Zwang gewordenen Frömmigkeit. Die Empörung
soll sich dabei auf den Leser übertragen, der mit
dem Geschehen mitfühlt. Das Werk entfaltet sich wie
eine Tragödie aus der Antike mit direktem Bezug auf
den sich ins Unglück stürzenden jüdischen
Protagonisten.
Weitere Buchveröffentlichungen im Jahr 2008
Mit dem Naziregime in einer sehr eindrucksvollen
Erzählweise befasste sich 2008 Jonathan Littell in
seinem Gigantenwerk „Die Wohlgesinnten“. Der dicke
Klopper war eine publizistische Sensation und zeigte
das Kriegsgeschehen und die Judenverfolgung aus
Sicht eines SS-Offiziers, der seine Erinnerungen
niederschreibt und auch als Täter im Holocaust
fungierte. Während Nietzsche die Wohlgesinnten in
seinen Schriften ironisch auf die Moralisten bezog,
ging es auch bei Littell um die falsche Darstellung
gutgemeinter Weltveränderungen. Der Titel war ein
Hinweis auf Aischylos „Die Eumeniden“, die übersetzt
ebenfalls die gleiche Bedeutung haben. Littell
verarbeitete fiktive Geschichten und reale Bezüge
und Personen zu einer spannenden Berichterstattung.
Die Kapitelüberschriften wurden wie eine barocke
Suite angelegt, so dass der Roman als Ouvertüre
beginnt und immer schneller zu Gewalt und Gemetzel
ausartet.
Jean-Marie Gustave Le Clézo hat nicht nur einen
beeindruckenden Namen, sondern erhielt 2008 auch den
Literaturnobelpreis. In Deutschland war er bis dahin
weniger bekannt, obwohl er ein sehr vielschichtiges
Werk vorlegte. Seine bekannten Romane wie „Das
Protokoll“, „Die Wüste“ und „Revolutionen“ wurden
danach neu herausgebracht. Ausgezeichnet wurde der
Schriftsteller als „Verfasser des Aufbruchs und
poetischen Abenteuers“, bei dem auch die sinnliche
Ekstase und Menschlichkeitserforschung nicht fehlte.
Besonders freute sich der Carl-Hanser-Verlag, der
damit den zwölften Nobelpreisträger vorzuweisen
hatte, der dort verlegt wurde.
2008 starben u. a. Alexander Solschenizyn, einer der
wichtigsten russischen Schriftsteller und
Systemkritiker, der Aufklärungsarbeit über die
stalinistische Zeit und die Gulags lieferte, Albert
Cossery, der mit „Gohar, der Bettler“ ein einmalig
schönes philosophisches und poetisches Werk über die
Armut und das fatale Streben nach Materialismus
schuf, und Harold Pinter, der nur drei Jahre zuvor
den Literaturnobelpreis erhielt und das „Absurde
Theater“ mitprägte.
Buch Bestseller 2008 Deutschland
Ildefonso Falcones – Die Kathedrale des Meeres
Stephenie Meyer – Bis(s) zum Abendrot
Ken Follett – Die Tore der Welt
Charlotte Roche – Feuchtgebiete
Uwe Tellkamp – Der Turm
Christopher Paolini – Eragon – Die Weisheit des
Feuers
Carlos Ruiz Zafón – Das Spiel des Engels
Joanne K. Rowling – Die Märchen von Beedle dem
Barden
Joanne K. Rowling – Harry Potter und die Heiligtümer
des Todes
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