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Filmchronik 1922 - Gruselfilme machten Furore
Der nie wirklich stille Stummfilm, der in der von
Live-Musik begleitet war, prägte bis Ende der 1920er
Jahre die Kino-Welt. 1922 ging die Entwicklung aber,
von den allermeisten Zeitgenossen unbemerkt, einen
weiteren Schritt in Richtung Tonfilm voran.
Filmtechnik-Pioniere wie der Schwede Berglund hatten
vorher bereits erheblich in dieser Richtung
Vorarbeit geleistet. Der polnische Ingenieur
Tykociński-Tykociner präsentierte am 9. Juni 1922
bei einer Fachtagung in Urban, Illinois, einen
synchronisierten Kurzfilm, der seine Frau Helene
beim Sprechen zeigte. Wegweisend für die
Tonfilm-Technologie waren auch die 1918
aufgenommenen Arbeiten der deutschen Ingenieure Hans
Vogt, Joseph Masolle und
Joseph Benedict Engl. Die drei Ingenieure hatten
parallel zu ihrem polnischen Kollegen einen Film mit
einer am Rand aufbelichteten Tonspur entwickelt, die
von einem Lichtstrahl abgetastet wurde. Am 17.
September 1922 wurde dieses Lichttonverfahren, das
die Erfinder „Tri-Ergon“ genannt hatten, zum ersten
Mal einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. 1000
Zuschauer sahen im gerade eröffneten Kinopalast „Alhambra“
am Berliner Kurfürstendamm den ersten Kurzfilm in
dieser Technik, den Dialog-Film „Der Brandstifter“.
Die Reaktion von Publikum, Fachwelt und
Filmwirtschaft war ausgesprochen zurückhaltend und
das Lichttonverfahren verschwand für einige Jahre in
der Versenkung.
Wesentlich erfolgreicher war der auch im „Alhambra“
1922 gezeigte, psychologisierende deutsche
Gruselkrimi „Dr. Mabuse, der Spieler“, der 1921/1922
von Erich Pommer produziert worden war. Als
Regisseur zeichnete Fritz Lang verantwortlich, der
mit „Dr. Mabuse“ seinen endgültigen Durchbruch
erlebte. Der zweiteilige, in der Originalfassung 270
Minuten lange Film, der später als Vorlage für fast
ein Dutzend Mabuse-Filme in den 1930er
beziehungsweise 1960er Jahren wurde, erzählte eine
vielschichtig verwickelte Story um den
verbrecherischen Hypnose-Spezialisten Dr. Mabuse
(Rudolf Klein-Rogge). „Dr. Mabuse“ galt bereits bei
seiner Premiere nicht nur als gut gemachte Fiktion,
sondern auch als ein zwar mit drastischen
Stilmitteln dargestelltes, aber dennoch stimmiges
Spiegelbild einer aus den Fugen geratenen
Gesellschaft. Für viele Zeitgenossen spiegelte „Dr.
Mabuse“ die als sozial orientierungslose und
anarchisch-hysterisch wahrgenommene Situation in der
frühen, von Krisen geschüttelten Weimarer Republik
wider. Noch bedrohlicher kam ein anderer ebenfalls
künstlerisch, allerdings nicht kommerziell, sehr
erfolgreicher 1922er Kino-Film daher: Friedrich
Wilhelm Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des
Grauens“ wurde zum Archetypus des Vampir-Films. Im
unter anderem an Schauplätzen in Wismar, Lübeck und
im Karpatengebiet in der Tradition des
expressionistischen Films gedrehten Streifen wurde
der gruselig langfingrige und kahle Nosferatu von
einem Schauspieler dargestellt, dessen Namen in
diesem Fall Programm war: Max Schreck.
Ein anderer wichtiger Film des Jahres löste bei
manchen pazifistisch und antinationalistisch
eingestellten Nachkriegsdeutschen ähnlich gruselige
Stimmungen wie „Nosferatu“ aus, bei anderen dagegen
patriotisch-verklärende Hochgefühle. Die stramm
rechts aufgestellte UFA brachte 1922 die ersten
beiden Teile („Sturm und Drang“ und „Vater und
Sohn“) des vierteiligen Historienfilms „Fridericus
Rex“ in die Lichtspielhäuser. Otto Gebühr, der mit
der Darstellung des von den Konservativen
vergötterten Preußenkönigs Friedrich II. die Rolle
seines Lebens gefunden hatte, tat sein Bestes, um
sein Publikum von der angeblich einsamen Größe des
späteren „Alten Fritz“ zu überzeugen und so die
durch die
Niederlage im Ersten Weltkrieg und die folgende
„Schmach von Versailles“ geschlagenen mentalen
Wunden vergessen zu lassen. „Fridericus Rex“, der
erste einer Reihe folgender Preußen-Filme, wurde von
einem Ungarn inszeniert: Regie führte Arzén von
Cserépy.
Die politische Rechte in Deutschland, die „Fridericus
Rex“ ausgesprochen wohlwollend aufnahm, hetzte
wütend gegen die am 29. Dezember 1922 uraufgeführte
Verfilmung des Lessing-Klassikers „Nathan der
Weise“. Der Film (Regie: Manfred Noa, Titelrolle:
Werner Krauß) wurde als „jüdischer Propagandafilm“
verunglimpft.
Außerhalb Deutschland festigten die USA ihre
Position als weltführende Filmnation mit
Erfolgsstreifen wie dem Erich-von-Stroheim-Melodram
„Foolish Wives“ („Törichte Frauen“), dem
Douglas-Fairbanks-Abenteuerfilm „Robin Hood“, dem
Ritterfilm „Der Gefangene von Zenda“ mit
Frauenschwarm Ramón Novarro als Kassenmagnet oder
dem 26-Minuten-Klassiker „Pay Day“, bei dem
Charlie
Chaplin nicht nur die Hauptrolle als gestresster
Bauarbeiter spielte, sondern auch Regie führte, das
Drehbuch schrieb und Produzent war. Filmgeschichte
schrieben die US-Amerikaner mit dem vielleicht
besten ethnografischen Dokumentarfilm der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem 78 Minuten langen
Film „Nanook of the North“ („Nanuk der Eskimo“) von
Robert J. Flaherty. Von vergleichbarer historischer
Bedeutung, aber wesentlich unbekannter, war auch ein
deutscher Wissenschaftsfilm mit dem sperrigen Titel
„Die Grundlagen der Einsteinschen
Relativitätstheorie“ (Regie: Hanns Walter Kornblum),
der 1922 in der Fachwelt und bei
wissenschaftsinteressierten Laien Begeisterung
auslöste.
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