1860
1861
1862
1863
1864
1865
1866
1867
1868
1869
Politik 1860-1869 – Bismarck wollte ein starkes
Kaiserreich
In der im Wesentlichen europäisch ausgerichteten
Weltpolitik der 1860er Jahre haben in erster Linie
die mit den Stichworten „Deutsche Einheitskriege“
und “Risorgimento“ gekennzeichneten Entwicklungen,
die die politische Landkarte in Europa durch die
Entstehung neuer großer nationalstaatlicher Gebilde
veränderten, für Aufsehen gesorgt. Ein anderes
welthistorisches Ereignis, nämlich der Amerikanische
Bürgerkrieg, wurde in Europa dagegen kaum zur
Kenntnis genommen. Nachdem die 1857 ausgelöste
Weltwirtschaftkrise 1859 beigelegt worden war,
befand sich die globale Wirtschaft in einem bis 1873
andauernden Konjunkturhoch, von dem die einzelnen
Bevölkerungsschichten der sich mitten im Umbruch von
Agrar- zu Industriegesellschaften befindenden
Volkswirtschaften allerdings in ausgesprochen
ungleicher Weise profitierten beziehungsweise nicht
profitierten.
Als erste der beiden „verspäteten Nationen“ des
europäischen Kontinents konnte Italien nach
jahrzehntelangen Bestrebungen der „Wiedererstehung“
(„Risorgimento“) fast alle der zahlreichen
Territorialstaaten und habsburgisch beherrschten
Gebiete der Apenninen-Halbinsel in einem Königreich
Italien vereinen. Nach einer Reihe von Aufständen
und Kriegen in den 1850er Jahren wurde 1861 unter
der Führung des Königreichs Sardinien-Piemont und
mit Unterstützung Frankreichs die Einigung Italiens
erfolgreich mit der Ausrufung des Königreichs
Italien unter Viktor Emanuel II. im Wesentlichen
abgeschlossen. Vorausgegangen war im Jahr vorher die
bald als „Zug der 1000“ zum Nationalepos verklärte
Landung von nationalistischen Freischärlern auf
Sizilien unter der Führung von Giuseppe Garibaldi.
Dem sich dem Ideal des Risorgimento verschriebenen
Garibaldi gelang es, den im Königreich beider
Sizilien herrschenden bourbonischen König
militärisch zu besiegen und so den Weg für eine
gesamtitaliensche Einigung zu ebnen.
Eine vergleichbare Einigung wurde auch von starken
Kräften im Deutschen Bund gefordert, dem nur bedingt
an die Tradition des 1806 untergegangenen Heiligen
Römischen Reiches deutscher Nation anknüpfenden
losen Staatenbund von etwa 40 souveränen Staaten in
Mitteleuropa. Wesentlicher Streitpunkt in der
Einigungsbewegung war die Frage, ob das angestrebte
neue Deutsche Reich das Kaisertum Österreich, das
zum großen Teil aus ungarischen und slawischen
Landesteilen bestand, einschließen sollte oder
nicht. Im Ergebnis zeichnete sich unter Führung des
preußischen Ministerpräsidenten (seit 1862) Otto von
Bismarck in den 1860er Jahren die so genannte
„kleindeutsche“ Lösung deutlich ab. Bismarck lehnte
ein preußisch-österreichisches Gleichgewicht ab und
strebte ein von Preußen dominiertes deutsches
Kaiserreich an. Im ersten der drei so genanten
„Einigungskriege“ marschierten Österreich und
Preußen 1864 noch gemeinsam. Der seit den 1840er
Jahren auf beiden Seiten national aufgeladene
Konflikt zwischen Dänemark und dem Deutschen Bund um
die Zukunft der zum Dänischen Gesamtstaat gehörenden
Herzogtümer Schleswig und Holstein entlud sich 1864
in dem kurzen Deutsch-Dänischen Krieg, der mit der
Niederlage Dänemarks endete. Von Bismarck geschürte
Konflikte bei der Verwaltung der von den beiden
deutschen Großmächten gemeinsam besetzten
Herzogtümer führten 1866 zum Deutschen Krieg. Das
mit Italien und einigen norddeutschen Staaten
verbündete militärisch überlegende Preußen schlug
Österreich, das mit Bayern, Sachsen, Hannover und
weiteren Staaten alliiert war (Entscheidung in der
Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866). Im
Ergebnis konnte Preußen sein Territorium nicht nur
erheblich durch Annexionen vergrößern, sondern durch
Bildung des preußisch dominierten Norddeutschen
Bundes Österreich aus der Einigungsbewegung
verdrängen und wesentliche Vorgaben für das dann
1871 gegründete „kleindeutsche“ Reich setzen.
Ein weiteres, mittelbares, Ergebnis des Krieges war
die Umwandlung des zentralistischen Kaisertums
Österreich in eine kaiserliche und königliche (k. u.
k.) Doppelmonarchie mit zwei gleichberechtigten
Reichsteilen durch den österreichisch-ungarischen
„Ausgleich von 1867“.
Ebenfalls von erheblicher politischer Bedeutung war
die Niederschlagung des Polnischen Aufstandes von
1863/64 durch das Zarenregime und die Gründung der
SPD-Vorgänger-Partei „Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei, SDAP“ (Vorsitzender: August Bebel)
im Jahr 1869.
In Japan setzte sich der Meiji-Tenno nach dem
Boshin-Krieg gegen den Tokugawa-Shogun 1868
endgültig durch. Der Tenno begründete eine
zentralistische Kaiser-Monarchie, die sich bei der
Umgestaltung des bis dahin feudalen Staatswesens
teilweise an modernen westlichen Vorbildern
orientierte und damit die Grundlagen für den
späteren Aufstieg zur imperialistischen Großmacht
schuf.
Eine andere spätere Weltmacht, die Vereinigten
Staaten von Amerika, hatte bereits in den 1840er
Jahren im Krieg gegen Mexiko, Bereitschaft und
Potenz zur Expansion bewiesen. In den Folgejahren
war die US-Politik aber vor allem durch
innenpolitische Krisen bestimmt. Im Zusammenhang mit
der überaus kontrovers diskutierten Sklaven-Frage
entwickelte sich ein die staatliche Einheit des
Landes bedrohender Konflikt um die
verfassungsrechtliche Frage der Stellung der
Bundesstaaten. Der Streit eskalierte. Im Dezember
1860 sagte sich South Carolina als erster Staat von
der Union los. 1861 schlossen sich insgesamt elf
gegen die Union rebellierende „Sklavenhalterstaaten“
als „Konföderierte Staaten“ (Präsident: Jefferson
Davis) zu einem Südstaaten-Bund zusammen. Der
folgende Bürgerkrieg („Sezessionskrieg“) zwischen
den Südstaaten und den USA („Nordstaaten“, unter
Führung von US-Präsident Abraham Lincoln) gilt als
der erste moderne Massenkrieg (etwa 700.000 Tote).
Nach anfänglichen militärischen Erfolgen wurden die
Konföderierten von den zahlenmäßig und
wirtschaftlich überlegenen Nordstaaten vernichtend
geschlagen. Nach der Kapitulation 1865 waren die USA
für viele Jahre ein gesellschaftlich sowie politisch
gespaltenes Land. Die im Süden teilweise als
Besatzungszeit empfundenen Jahre der
Wiedereingliederung („Reconstruction“, bis 1877) in
die Union sicherten aber letztlich den Aufbau der
modernen Großmacht USA.
Der Erfolgsroman „Emma“ der 1855 gestorbenen
Engländerin Charlotte Brontë erschien fünf Jahre
nach dem Tod der Autorin. Im selben Jahr (1860)
wurde auch das Hauptwerk des bedeutenden
US-amerikanischen Dichters Walt Whitman
veröffentlicht. In Großbritannien wurde 1864 ein
anderes lyrisches Werk zu einem Publikumserfolg:
Alfred Tennysons Ballade „Enoch Arden“. Zu den
wichtigsten französischen Neuerscheinungen des
Jahrzehnts gehörten Victor Hugos monumentaler
Roman-Fünfbänder „Les Misérables“ (1862) und der
zweite Roman von Jules Verne, „Die Reise zum
Mittelpunkt der Erde“ (1864). Eines der noch heute
viel gelesenen Literaturwerke der 1860er erschien
1865: Lewis Carroll veröffentlichte in England das
Erwachsenenmärchen „ im Wunderland“. Auf der
anderen Seite des Ärmelkanals sorgte Wilhelm Busch
mit dem hochmoralischen
Früh-Comic „Max und Moritz“
im selben Jahr für Generationen überdauerndes
Schmunzeln. Wesentlich ernster ging es in dem von
Fjodor Dostojewski geschriebenen Roman „Raskolnikov“
(anderer Titel: „Schuld und Sühne“) (1866) und der
vom selben Autor angeblich in 26 Tagen geschriebenen
Meisternovelle „Der Spieler“ (1867) zu. 1867 wurde
auch die endgültige Fassung eines weiteren
russischen Großwerkes veröffentlicht: Leo Tolstois
„Krieg und Frieden“.
1860 schloss 82-jährig der deutsche Philosoph des
„Subjektiven Idealismus“ Arthur Schopenhauer für
immer die Augen. Drei Jahre später folgte ihm der
französische Maler Ferdinand Victor Eugène Delacroix
(1798 – 1863), dessen berühmtes Aufstands-Gemälde
„Die Freiheit führt das Volk“ (1830) zur Ikone der
Revolutions-Malerei geworden ist. In Berlin starb
mit Jakob Grimm (1785 – 1863) im selben Jahr der
ältere der beiden als „Märchen-Gebrüder“ bekannt
gewordenen Brüder Grimm. 1861 ließ der deutsche,
1819 geborene Duodez-Prinz Albert von Sachsen-Coburg
und Gotha eine untröstliche Witwe zurück: Die
britische Königin Victoria trauerte lebenslang um
ihren geliebten Prinzgemahl.
In Washington erlag kurz nach Ende des
Amerikanischen Bürgerkriegs US-Präsident Abraham
Lincoln (1809 -1865) nach einem Attentat seinen
Verletzungen. Ähnlich gewaltsam und sehr altmodisch
kam 1864 in der Nähe von Genf einer der wichtigsten
deutschen Linkspolitiker um: Mit 39 Jahren starb
Ferdinand Lassalle an einer bei einem Pistolenduell
erlittenen Schussverletzung. 1868 starb nervlich
zerrüttet der österreichische Schriftsteller
Adalbert Stifter („Der Nachsommer“, 1857) mit 62
Jahren. 76 Jahre alt wurde der italiensche
Belcanto-Komponist Gioachino Antonio Rossini („Der
Barbier von Sevilla“), der 1868 in Paris starb.
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