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Politik 1860-1869 – Bismarck wollte ein starkes Kaiserreich


In der im Wesentlichen europäisch ausgerichteten Weltpolitik der 1860er Jahre haben in erster Linie die mit den Stichworten „Deutsche Einheitskriege“ und “Risorgimento“ gekennzeichneten Entwicklungen, die die politische Landkarte in Europa durch die Entstehung neuer großer nationalstaatlicher Gebilde veränderten, für Aufsehen gesorgt. Ein anderes welthistorisches Ereignis, nämlich der Amerikanische Bürgerkrieg, wurde in Europa dagegen kaum zur Kenntnis genommen. Nachdem die 1857 ausgelöste Weltwirtschaftkrise 1859 beigelegt worden war, befand sich die globale Wirtschaft in einem bis 1873 andauernden Konjunkturhoch, von dem die einzelnen Bevölkerungsschichten der sich mitten im Umbruch von Agrar- zu Industriegesellschaften befindenden Volkswirtschaften allerdings in ausgesprochen ungleicher Weise profitierten beziehungsweise nicht profitierten.
Als erste der beiden „verspäteten Nationen“ des europäischen Kontinents konnte Italien nach jahrzehntelangen Bestrebungen der „Wiedererstehung“ („Risorgimento“) fast alle der zahlreichen Territorialstaaten und habsburgisch beherrschten Gebiete der Apenninen-Halbinsel in einem Königreich Italien vereinen. Nach einer Reihe von Aufständen und Kriegen in den 1850er Jahren wurde 1861 unter der Führung des Königreichs Sardinien-Piemont und mit Unterstützung Frankreichs die Einigung Italiens erfolgreich mit der Ausrufung des Königreichs Italien unter Viktor Emanuel II. im Wesentlichen abgeschlossen. Vorausgegangen war im Jahr vorher die bald als „Zug der 1000“ zum Nationalepos verklärte Landung von nationalistischen Freischärlern auf Sizilien unter der Führung von Giuseppe Garibaldi. Dem sich dem Ideal des Risorgimento verschriebenen Garibaldi gelang es, den im Königreich beider Sizilien herrschenden bourbonischen König militärisch zu besiegen und so den Weg für eine gesamtitaliensche Einigung zu ebnen.
Eine vergleichbare Einigung wurde auch von starken Kräften im Deutschen Bund gefordert, dem nur bedingt an die Tradition des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation anknüpfenden losen Staatenbund von etwa 40 souveränen Staaten in Mitteleuropa. Wesentlicher Streitpunkt in der Einigungsbewegung war die Frage, ob das angestrebte neue Deutsche Reich das Kaisertum Österreich, das zum großen Teil aus ungarischen und slawischen Landesteilen bestand, einschließen sollte oder nicht. Im Ergebnis zeichnete sich unter Führung des preußischen Ministerpräsidenten (seit 1862) Otto von Bismarck in den 1860er Jahren die so genannte „kleindeutsche“ Lösung deutlich ab. Bismarck lehnte ein preußisch-österreichisches Gleichgewicht ab und strebte ein von Preußen dominiertes deutsches Kaiserreich an. Im ersten der drei so genanten „Einigungskriege“ marschierten Österreich und Preußen 1864 noch gemeinsam. Der seit den 1840er Jahren auf beiden Seiten national aufgeladene Konflikt zwischen Dänemark und dem Deutschen Bund um die Zukunft der zum Dänischen Gesamtstaat gehörenden Herzogtümer Schleswig und Holstein entlud sich 1864 in dem kurzen Deutsch-Dänischen Krieg, der mit der Niederlage Dänemarks endete. Von Bismarck geschürte Konflikte bei der Verwaltung der von den beiden deutschen Großmächten gemeinsam besetzten Herzogtümer führten 1866 zum Deutschen Krieg. Das mit Italien und einigen norddeutschen Staaten verbündete militärisch überlegende Preußen schlug Österreich, das mit Bayern, Sachsen, Hannover und weiteren Staaten alliiert war (Entscheidung in der Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866). Im Ergebnis konnte Preußen sein Territorium nicht nur erheblich durch Annexionen vergrößern, sondern durch Bildung des preußisch dominierten Norddeutschen Bundes Österreich aus der Einigungsbewegung verdrängen und wesentliche Vorgaben für das dann 1871 gegründete „kleindeutsche“ Reich setzen.
Ein weiteres, mittelbares, Ergebnis des Krieges war die Umwandlung des zentralistischen Kaisertums Österreich in eine kaiserliche und königliche (k. u. k.) Doppelmonarchie mit zwei gleichberechtigten Reichsteilen durch den österreichisch-ungarischen „Ausgleich von 1867“.
Ebenfalls von erheblicher politischer Bedeutung war die Niederschlagung des Polnischen Aufstandes von 1863/64 durch das Zarenregime und die Gründung der SPD-Vorgänger-Partei „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, SDAP“ (Vorsitzender: August Bebel) im Jahr 1869.
In Japan setzte sich der Meiji-Tenno nach dem Boshin-Krieg gegen den Tokugawa-Shogun 1868 endgültig durch. Der Tenno begründete eine zentralistische Kaiser-Monarchie, die sich bei der Umgestaltung des bis dahin feudalen Staatswesens teilweise an modernen westlichen Vorbildern orientierte und damit die Grundlagen für den späteren Aufstieg zur imperialistischen Großmacht schuf.
Eine andere spätere Weltmacht, die Vereinigten Staaten von Amerika, hatte bereits in den 1840er Jahren im Krieg gegen Mexiko, Bereitschaft und Potenz zur Expansion bewiesen. In den Folgejahren war die US-Politik aber vor allem durch innenpolitische Krisen bestimmt. Im Zusammenhang mit der überaus kontrovers diskutierten Sklaven-Frage entwickelte sich ein die staatliche Einheit des Landes bedrohender Konflikt um die verfassungsrechtliche Frage der Stellung der Bundesstaaten. Der Streit eskalierte. Im Dezember 1860 sagte sich South Carolina als erster Staat von der Union los. 1861 schlossen sich insgesamt elf gegen die Union rebellierende „Sklavenhalterstaaten“ als „Konföderierte Staaten“ (Präsident: Jefferson Davis) zu einem Südstaaten-Bund zusammen. Der folgende Bürgerkrieg („Sezessionskrieg“) zwischen den Südstaaten und den USA („Nordstaaten“, unter Führung von US-Präsident Abraham Lincoln) gilt als der erste moderne Massenkrieg (etwa 700.000 Tote). Nach anfänglichen militärischen Erfolgen wurden die Konföderierten von den zahlenmäßig und wirtschaftlich überlegenen Nordstaaten vernichtend geschlagen. Nach der Kapitulation 1865 waren die USA für viele Jahre ein gesellschaftlich sowie politisch gespaltenes Land. Die im Süden teilweise als Besatzungszeit empfundenen Jahre der Wiedereingliederung („Reconstruction“, bis 1877) in die Union sicherten aber letztlich den Aufbau der modernen Großmacht USA.
Der Erfolgsroman „Emma“ der 1855 gestorbenen Engländerin Charlotte Brontë erschien fünf Jahre nach dem Tod der Autorin. Im selben Jahr (1860) wurde auch das Hauptwerk des bedeutenden US-amerikanischen Dichters Walt Whitman veröffentlicht. In Großbritannien wurde 1864 ein anderes lyrisches Werk zu einem Publikumserfolg: Alfred Tennysons Ballade „Enoch Arden“. Zu den wichtigsten französischen Neuerscheinungen des Jahrzehnts gehörten Victor Hugos monumentaler Roman-Fünfbänder „Les Misérables“ (1862) und der zweite Roman von Jules Verne, „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (1864). Eines der noch heute viel gelesenen Literaturwerke der 1860er erschien 1865: Lewis Carroll veröffentlichte in England das Erwachsenenmärchen „ im Wunderland“. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals sorgte Wilhelm Busch mit dem hochmoralischen Früh-Comic „Max und Moritz“ im selben Jahr für Generationen überdauerndes Schmunzeln. Wesentlich ernster ging es in dem von Fjodor Dostojewski geschriebenen Roman „Raskolnikov“ (anderer Titel: „Schuld und Sühne“) (1866) und der vom selben Autor angeblich in 26 Tagen geschriebenen Meisternovelle „Der Spieler“ (1867) zu. 1867 wurde auch die endgültige Fassung eines weiteren russischen Großwerkes veröffentlicht: Leo Tolstois „Krieg und Frieden“.
1860 schloss 82-jährig der deutsche Philosoph des „Subjektiven Idealismus“ Arthur Schopenhauer für immer die Augen. Drei Jahre später folgte ihm der französische Maler Ferdinand Victor Eugène Delacroix (1798 – 1863), dessen berühmtes Aufstands-Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ (1830) zur Ikone der Revolutions-Malerei geworden ist. In Berlin starb mit Jakob Grimm (1785 – 1863) im selben Jahr der ältere der beiden als „Märchen-Gebrüder“ bekannt gewordenen Brüder Grimm. 1861 ließ der deutsche, 1819 geborene Duodez-Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha eine untröstliche Witwe zurück: Die britische Königin Victoria trauerte lebenslang um ihren geliebten Prinzgemahl.
In Washington erlag kurz nach Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs US-Präsident Abraham Lincoln (1809 -1865) nach einem Attentat seinen Verletzungen. Ähnlich gewaltsam und sehr altmodisch kam 1864 in der Nähe von Genf einer der wichtigsten deutschen Linkspolitiker um: Mit 39 Jahren starb Ferdinand Lassalle an einer bei einem Pistolenduell erlittenen Schussverletzung. 1868 starb nervlich zerrüttet der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter („Der Nachsommer“, 1857) mit 62 Jahren. 76 Jahre alt wurde der italiensche Belcanto-Komponist Gioachino Antonio Rossini („Der Barbier von Sevilla“), der 1868 in Paris starb.
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