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Politik 1870-1879 – Folgen des
Deutsch-Französischen Krieges
Die 1870er Jahre waren insbesondere vom Erscheinen
des in Folge des Deutsch-Französischen Krieges von
1870/71 entstandenen Deutschen Reiches auf der
politischen Weltbühne bestimmt. Auch beschäftigte
sich das Konzert der Mächte intensiv mit der
Orientalischen Frage. Zudem entfachte die 1873
ausgebrochene globale Wirtschaftskrise den Streit
zwischen Anhängern von Freihandel und den
Verfechtern von Schutzzöllen.
Weltpolitik war in den 1870er Jahren wie in den
Jahrzehnten davor und danach vor allem die Politik
der europäischen Mächte. In dieser den
Hochimperialismus unmittelbar vorbereitenden Phase
spielten außereuropäische Länder noch kaum eine
gestaltende Rolle. Das traf auch für die spätere
Supermacht USA zu. Die USA standen vor dem Abschluss
der inneren Expansion und hatten bereits in den
1840er und 1850er Jahren ihre Ansprüche auf weiter
greifende Einflussnahmen (Mexiko, Japan) angemeldet.
Der Amerikanische Bürgerkrieg (1861 – 1865) hatte
diesen Ansatz allerdings dann für eine Generation
gehemmt. In der auf den Bürgerkrieg folgenden „Reconstruction
Era“ (1865 – 1877) beschäftigten sich die USA mit
dem Wiederaufbau des Landes und der
Neupositionierung ihrer Gesellschaft.
In Ostasien schickte sich zur selben Zeit ein
anderer späterer Aufsteigerstaat an, sich neu zu
finden: Japan. Nach der von den USA 1853/54
erzwungenen Einbeziehung Japans in die moderne Welt
war das ostasiatische Inselreich nicht wie China und
andere Länder der Region zu einer Halbkolonie
herabgesunken, sondern hatte sich schrittweise durch
Reformen zum „Tiger-Staat“ entwickelt. Nach
Abschaffung des feudalistischen Shogunats-Systems
(1868) wurde unter den Meiji-Kaisern ein
zentralistisches und hocheffektives Staatsmodell
durchgesetzt, das nicht zuletzt auf der Übernahme
westlicher Standards der Verwaltung, des Militärs
und der Wirtschaft basierte. Noch im Westen kaum als
Machtfaktor wahrgenommen, zeigte Japan unter anderem
bei der gewaltsamen „Öffnung“ Koreas für japanische
Einflüsse (1876) den imperialistischen Grundansatz
seiner Politik.
Die führende imperialistische Macht des Jahrzehnts
war aber Großbritannien. Das am höchsten
industrialisierte Land der Welt hatte nach einigen
innenpolitischen Reformen endgültig den Weg in eine
konstitutionelle Monarchie gefunden. Königin
Victoria, Symbolfigur einer ganzen Ära, begnügte
sich mit der Rolle der Repräsentantin eines von
liberal-konservativen bürgerlichen Kräften gelenkten
politischen Gemeinwesens. Die Außenpolitik des
Vereinigten Königreiches war durch die Maxime der
„Splendid Isolation“ bestimmt. Großbritannien
vermied es sorgfältig, sich durch die Einbindung in
feste Allianzen in seiner politischen
Bewegungsfreiheit beschränken zu lassen. Sich auf
seine starke Flotte stützend zog es Vorteile aus
seinem Engagement in Übersee. In den 1870er Jahren
beschränkte sich der koloniale Ansatz
Großbritanniens noch zumeist auf die Ausübung
indirekter Herrschaft („Informal Empire“) in Asien
und Afrika. Lediglich in Indien wurde Wert auf
direkte Herrschaft gelegt. Die Bedeutung Indiens
wurde unter anderem durch die Annahme des indischen
Kaiserintitels durch Königin Victoria (1877) und
durch die faktische Übernahme der Herrschaft des für
den Seeweg nach Indien wichtigen Suez-Kanals (1875)
betont.
Auf dem europäischen Kontinent hatte der vom
preußischen Ministerpräsidenten Bismarck provozierte
Krieg mit dem französischen Kaiserreich zur Einigung
der siegreichen deutschen Staaten geführt. Am 18.
Januar 1871 wurde das Deutsche Reich im Spiegelsaal
von Versailles ausgerufen. Damit war die seit
Generationen von vielen Deutschen beklagte
Zersplitterung der deutschen Staatenwelt aufgehoben.
Allerdings blieb das bis dahin auch stets als
deutsches Land geltende Österreich vom (2.)
Deutschen Reich ausgeschlossen. Zwar gab es in dem
neuen politisch und vor allem wirtschaftlich überaus
starken Großstaat des Kaisers Wilhelm I. mit dem
Reichstag eine nach modernen Vorgaben gewählte
Volksvertretung, doch lag nach der Verfassung die
Macht fast allein beim von den Bundesfürsten (plus
drei Hansestädten) gebildeten Bundesrat. De facto
wurde das Deutsche Reich vom Kaiser (in
Personalunion preußischer König) beziehungsweise von
dem von ihm ernannten Reichskanzler Bismarck
regiert. Dieses als „Scheinkonstitutionalismus“
bezeichnete weitgehend der demokratischen Kontrolle
entzogene, vom protestantisch-konservativen Preußen
dominierte Staatskonstrukt stieß im Reich vor allem
bei der sich formierenden Arbeiterschaft (1875
Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei
Deutschlands, SAPD) und in katholischen Kreisen auf
Widerstand. Das Bismarck-Regime reagierte mit
Repression. Aber sowohl im anti-katholischen
„Kulturkampf“ (1871 – 1887) als auch durch die
„Sozialistengesetze“ (1878 – 1890) konnte Bismarck
diesen Widerstand der „Reichsfeinde“ und
„vaterlandslosen Gesellen“ nicht brechen.
Außenpolitisch war Bismarck dagegen erfolgreich.
Nachdem ihm von Großbritannien deutlich signalisiert
worden war, dass London einen zweiten Krieg gegen
Frankreich nicht akzeptieren würde, erklärte
Bismarck die deutsche Expansion für abgeschlossen.
Er begann ein kunstvolles System von Abkommen
aufzubauen, das den Frieden für Deutschland sichern
sollte.
Endgültig als herausragender Außenpolitiker wurde er
in Europa im Zusammenhang mit der Beilegung der
„Großen Orientkrise“ wahrgenommen.
Die permanenten Krisen auf dem Balkan unter
Beteiligung des sich im Konflikt mit dem von
Niedergang betroffenen Osmanischen Reich („Kranker
Mann am Bosporus“) als slawisch-christliche
Schutzmacht positionierenden Russlands sorgten für
erheblichen internationalen Zündstoff.
Großbritannien, Österreich-Ungarn und Frankreich
standen einer Ausweitung des russischen Einflusses
im Balkanraum kritisch gegenüber. Die von Russland
nach dem Sieg im Krieg gegen das Osmanische Reich
1877/78 erhobenen umfangreichen
Gebietsabtretungsansprüche führten zur Konfrontation
zwischen den Großmächten.
Im Berliner Kongress von 1878 gelang es dem
„ehrlichen Makler“ Bismarck den Konflikt zu
entschärfen und eine einvernehmliche
Nachkriegsordnung zu schaffen.
Wirtschaftlich erlebte Deutschland, dem Frankreich
1871 die Reparationssumme von fünf Milliarden
Goldfrancs zu zahlen hatte, nach dem Krieg einen
ungeheuren Aufschwung („Gründerzeit“), der aber
rasch in eine überhitzte Konjunktur überging und
schließlich bereits 1873 („Gründerkrach“) in eine,
auf wechselndem Niveau die folgenden zwei Jahrzehnte
andauernde, Weltwirtschaftskrise mündete.
Zu den wichtigsten Neuerscheinungen auf dem
Buchmarkt in den 1870er Jahren gehörten Émile Zolas
1871 erschienener Roman „Das Glück der Familie
Rougon“, Jules Vernes phantastische „Reise um die
Erde in 80 Tagen“ (1873), Fjodor Dostojewskis „Die
Dämonen“ (1873), Mark Twains „Tom Sawyer“ (1876) und
Leo Tolstois „Anna Karenina“ (1877).
Zu den Prominenten, die in den 1870er Jahre
gestorben sind, zählten der 1802 geborene
französische Autor der „Drei Musketiere“ Alexandre
Dumas der Ältere. Der berühmte schottische
Afrikaforscher David Livingstone starb 1873 im Alter
von 60 Jahren in Sambia. Im selben Jahr starb im
Londoner Exil auch der letzte französische Monarch,
Napoleon III. (geb. 1801). Der dänische
Schriftsteller Hans Christian Andersen (1805 – 1875)
starb in Kopenhagen und in einem US-Militärgefängnis
in Nebraska starb der Indianer-Häuptling Crazy Horse
(geb. um 1840), der durch seinen Sieg über die
US-Kavallerie in der Schlacht am Little Bighorn
(1876) bekannt geworden war.
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