Das Literaturjahr 2015 - Todesurteil für einen
Literaten
Vor genau 200 Jahren starb der Forschungsreisende
und Schriftsteller Jan Potocki. Seine „Handschrift
von Saragossa“ machte auch in der Wirklichkeit eine
romanhafte Reise durch, denn das berüchtigte Werk
erschien zu Lebzeiten des polnischen Adligen nur als
Privatdruck. Potocki litt an schweren Depressionen
und brachte sich schließlich durch eine selbst dafür
zurechtgefeilte silberne Kugel um. Nach dem
Selbstmord ging das Manuskript seines Romans
verloren. Dennoch waren Raubdrucke im Umlauf und
einige versuchten, „Die Handschrift von Saragossa“
unter eigenem Namen zu vermarkten. Die einzige
vollständige Version des Romans gab es in einer
polnischen Übersetzung, die später in aufwendiger
Rekonstruktionsarbeit wiederhergestellt und ins
Französische übersetzt wurde.
Wer nun meint, die Literaturgeschichte wäre heute
weniger interessant, irrt sich gewaltig. Der Markt
ist zwar schnelllebig geworden, die Bücher wechseln
in Vermarktung und Verarbeitung, werden mit wenigen
Ausnahmen häufig weggelesen und vergessen, daneben
ist das E-Book
2015 eine starke Konkurrenz zum
Papierbuch geworden, aber spannend bleibt die Welt
der Bücher dennoch, manchmal auch tragisch, wie das
Drama um den palästinensischen Dichter Asharaf
Fayadh, der im November des Jahres in
Saudi-Arabien
aufgrund seines Romans und wegen „Abfall vom
muslimischen Glauben“ zum Tode verurteilt wurde.
Kritisch zum Thema Fremdenhass und Terror äußerste
sich im Literaturjahr 2015 auch der französische
Skandalautor Michel Houellebecq mit seinem Buch
„Unterwerfung“. Houellebecq, der immer so gerne
sexuelle Themen aufgreift, zeigt in diesem Roman
eine französische Gesellschaft des Jahres 2022, die
von einem muslimischen Politiker regiert wird, der
nicht nur das Patriarchat und die Polygamie
einführt, sondern auch die Scharia. Dennoch
funktioniert das Ganze und spiegelt bekannte
Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens wider. Der
Protagonist Francois, Literaturwissenschaftler und
Alkoholiker, beschäftigt sich neben dieser
Wirklichkeit mit den dunklen Abgründen des
Schriftstellers Joris-Karl-Huysmans. Hinterfragt
werden Toleranz, Liebe, Hass, Vereinsamung und
Politik.
Der Roman erschien dabei noch vor dem Anschlag auf
die Zeitschrift „Charlie Hebdo“, bei dem einige
Journalisten ihr Leben lassen mussten, weil sie
bekannt für ihre deftigen Comic-Attacken auf Muslime
waren, und auch vor den verheerenden Anschlägen auf
einige kulturelle Gebäude in Paris in der Nacht vom
13. auf den 14. November 2015, bei denen mehr als
130 unschuldige Menschen starben.
Arnold Geiger brachte 2015 einen Roman heraus, der
auf geteilte Meinung und ebenso,
hermetisch wie kühn und ausbrechend.
aufgrund seiner
Coming-of-Age-Geschichte, auf einige Kritik stieß.
Er trug den Titel „Selbstporträt mit Flusspferd“.
Hier sorgt ein Zwergflusspferd dafür, dass sich ein
orientierungsloser Protagonist an seine Zeit als
dickes Kind zurückerinnert. Langsamkeit und Trägheit
sind in der heutigen Gesellschaft Zeichen der
Schwäche, der Autor aber verweist auf das Zögern
beim Handeln als eine neue Charakterstärke. Sein
Protagonist erreicht zwar nicht viel, ist aber
beständig neugierig. Er fühlt sich in seiner
Unsicherheit unter Druck gesetzt, wie es viele
Jugendliche durchmachen, die zu Strebsamkeit und
Erfolg erzogen werden und damit häufig überfordert
sind. Die Banalität des Lebens hat Geiger schon
mehrfach in seinen Romanen vertieft. So auch hier.
Kritiker jedoch bemängelten die Symbolik im Roman,
die ausgerechnet durch ein Flusspferd zum Ausdruck
kommen soll und in diesem Sinne sein Ziel verfehlt
hätte.
Auch die amerikanische Autorin Sue Monk Kidd machte
mit ihrem Buch „Die Erfindung der Flügel“ von sich
reden. Sie beschäftigte sich darin mit zwei Frauen,
die im 19. Jahrhundert lebten und sich sowohl für
die Frauenrechte einsetzten als auch gegen Sklaverei
und Rassentrennung protestierten. In diesem
historischen Roman hielt sich die Schriftstellerin
nur bedingt an die vorhandenen Quellen, nutzte das
Grundgerüst, um ihre Protagonistin, eine Leibeigene
namens Hetty Grimké, ins Bild zu setzen. Sarah
Grimké, die andere Protagonistin, ist wiederum nach
wahren Gegebenheiten gezeichnet, erreicht aber
eigenartigerweise nicht die Lebendigkeit der
fiktiven Gestalt.
Der israelische Schriftsteller Amoz Oz schrieb 2014
seinen Roman „Judas“, der 2015 in Deutschland
publiziert wurde. Er verbindet darin eine moderne
Geschichte mit der biblischen, setzt eine Gegenwart
im Jahr 1960 an, die aber immer auch der
Staatsgründung Israels 1948 gegenüber steht. Wie
immer schaffte Oz es, sprachgewaltig, tief und
dennoch einfach dem Leser die Geschichte des
Judentums näherzubringen.
Oz wurde 1939 in Jerusalem geboren, arbeitete neben
der Schriftstellerei auch als Journalist. Daneben
war er Mitgründer der politischen Bewegung „Peace
Now“.
Von Milan Kundera erschien 2015 das Buch „Das Fest
der Bedeutungslosigkeit“. Die Veröffentlichung des
Romans war auch darum so spektakulär, weil der
Schriftsteller sich 14 Jahre vom Schreiben
zurückgezogen hatte und die allgemeinen Erwartungen
nur bedingt erfüllte. Dennoch kann man das Buch als
sein Alterswerk bezeichnen.
Kundera wurde 1929 in der Tschechoslowakei geboren,
lebte jedoch in Frankreich. Er wurde durch seinen
erfolgreichen Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit
des Seins“ bekannt.
2008 kamen Gerüchte auf, dass der damals
zwanzigjährige Kundera den antikommunistischen
Aktivisten Miroslav Dvořáček bei der Geheimpolizei
angezeigt haben soll, der dafür 22 Jahre Gefängnis
mit 14 Jahre Zwangsarbeit bekam.
Kundera erklärte, dass die Unterschrift auf dem
durch den Historiker Adam Hradilek vorgelegten
Protokoll nicht von ihm stammen würde, stattdessen
alleine sein Name von einem Beamten der
Geheimpolizei benutzt wurde. Der Fall konnte nicht
eindeutig geklärt werden.
Wie immer bildet auch in diesem Roman das Flanieren
und Philosophieren der Protagonisten die
Grundtendenz, um sowohl Politik, Literatur, Erotik
und Kunst der Moderne zu hinterfragen. Eine wichtige
Begleiterscheinung sind Anekdoten und Witze über
Stalin. Kundera versucht so, die zu schnelllebige
Epoche als Komödie darzustellen, die eine grotesk
traurige Wirklichkeit in sich birgt.
Den Literaturnobelpreis 2015 erhielt die aus der
Ukraine stammende Journalistin Swetlana Alexijewitsch für ihr politisches Engagement und
ihre Reportage „Secondhand-Zeit“. Darin lässt sie
Russen aller Gesellschaftsschichten über das Leben
in
Russland und in der Sowjetunion zu Wort kommen,
wie diese den Kommunismus, die Stalin- und
Gorbatschow-Ära erlebt haben und das heutige Leben
unter Wladimir Putin. Sichtbar wird das Ambivalente
der Aussagen, der auch manchmal nostalgische Blick
auf den Kommunismus. Sehr bewegend neben den
zahlreichen Interviews ist die Menschlichkeit, die
Alexijewitsch hier durch die getroffene Auswahl der
Stimmen zu zeigen verstanden hat.
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