Literatur 1966 Deutschland
In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begehrte die
Jugend auf, sie suchte nach neuen Wertsystemen und
gesellschaftlichen Orientierungen, sie forderte
Umwälzung und Revolution, was letztendlich in den
Studentenrevolten des Jahres 1968 gipfelte und von
dort aus überleitete in eines der dunkelsten Kapitel
der deutschen Nachkriegsgeschichte, der
Terrorisierung der Bundesrepublik Deutschland durch
die RAF.
Doch die Rufe nach Neustrukturierung waren bereits
im Vorfeld der Revolten laut geworden und erfassten
ein gesamtgesellschaftliches Spektrum; so wirkten
sie sich auch auf die künstlerische Produktion aus.
Gerade die jungen Köpfe unter den deutschsprachigen
Literaten begannen mit den tradierten Normen und
Regeln der Poesie zu brechen, unter ihnen der
österreichische Schriftsteller Peter Handke, dessen
Stück "Publikumsbeschimpfung" im Juni des Jahres
1966 in Frankfurt am Main uraufgeführt wurde; der
Verfasser war zu diesem Zeitpunkt gerade 24 Jahre
alt.
Vor allem im Frühwerk des Autors dominierte die
Sprache als zentrale Thematik, die Sprache als
Möglichkeit der Wirklichkeitserschließung, wie sie
bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts von
Philosophen wie
Ludwig Wittgenstein oder Fritz Mauthner zum Gegenstand wissenschaftlicher
Untersuchungen, Diskussionen und Abhandlungen
gemacht worden war. Auch mit seiner
"Publikumsbeschimpfung" widmete sich Handke dem
Thema des Sprechens, das im Grunde auch die
alleinige Handlung des Stückes darstellt, das mit
den Regeln und Konventionen des ursprünglichen
Theaters und der vorherrschenden Dramentheorie, die
im 20. Jahrhundert vor allem von
Bertolt Brecht
geprägt war, radikal brach.
Diese Absage an die Tradition formulierte Peter
Handke mehr als deutlich, was sich sowohl am Inhalt
des Sprechstückes wie auch an dessen Umsetzung
zeigte. Nicht mehr die didaktischen und
dokumentarischen Ansätze eines Brechts standen im
Vordergrund, das Nachdenken über das Theater selbst
sollte angeregt und gefördert werden, wozu sich der
Österreicher vor allem der Beziehung zwischen den
Akteuren und dem Publikum zuwandte.
In der "Publikumsbeschimpfung", die ihren Adressat
bereits im Titel verrät, wurde das Verhältnis
umgekehrt, die Zuschauenden saßen mit einem Mal im
Rampenlicht und fanden sich direkt angesprochen von
den vier namenlos bleibenden Mimen auf der Bühne,
die ausgehend von allgemeinen Formulierungen und
Ansprachen letztendlich zu einer Beschimpfung der
vor ihnen Sitzenden übergingen, in deren Hintergrund
deutlich die Vergangenheit des Dritten Reiches
dominierte.
Der abschließende Applaus dieser Premiere kam nicht
von Seiten des Publikums, die Schauspieler
klatschten den vor ihnen Sitzenden Beifall und
überließen sie nach dieser Premiere dem Gefühl,
Zeuge von etwas komplett Neuartigem geworden zu
sein.