Das Modejahr
1998 - Die Männermode kämpfte um Gleichberechtigung
Beinahe hätte das Jahr mit einer grandiosen
Veranstaltung begonnen, die sich ausschließlich der
Männermode widmen sollte. Bis es schließlich soweit war,
vergingen noch einige Monate. Doch im Sommer ging sie
über die Bühne, besser, über den Laufsteg, die erste
internationale Herren-Modenschau, die „London Men’s
Fashion Week“. Noch waren keine großen Namen am Start.
Vivienne Westwood und der bekannte Jung-Designer Ozwald
Boateng hatten ihre Zusagen zurückgezogen. Das war umso
bedauerlicher, da im Vorfeld bereits einige namhafte
Designer diese Veranstaltung mit offenkundigem
Desinteresse geschmäht hatten. Der Erfolg kam dennoch,
wenn auch sehr langsam.
Und heute ist diese Fashion-Week
für Männer nicht mehr aus der Modeszene weg zu denken.
Außerdem wird sie vom Designer-Nachwuchs als begehrte
Plattform genutzt. Heute ist das internationale
Interesse groß, der schwere Start ist vergessen und die
Männermode hat nicht nur eine Zukunft; sie wird auch
sehr ernst genommen. Im selben Jahr wurde eine
Hilfiger-Denim-Kollektion präsentiert und bekam eine
Europa-Lizenz für gehobene Herrenmode.
In der Damenmode wurde es zusehends femininer,
wenngleich die Kombination aus einem
Blumen-Muster-Wickelrock und einem streng-sachlichen
Nadelstreifen-Gehrock Anlass zu Diskussionen gab. Der
Business-Stil war mit dieser Kreation längst nicht zu
erschüttern. Und das sogenannte starke Geschlecht wurde
auch nicht in Frage gestellt. Der klassische
Herren-Anzug ebenso wenig. Vielleicht lag diese
Diskussion eher daran, dass die Schöpfer solch schräger
Garderobe sich ihrer eigenen Kreationen nicht sicher
waren. Vielleicht suchten sie auch eine Entschuldigung
für die Betonung der neuen Weiblichkeit, gepaart mit
Stärke und Selbstbewusstsein. Dabei war die Grundidee
durchaus nachvollziehbar.
Auch die Puristen scheuten sich nicht, weibliche
Elemente in ihre Kleidung zu bringen. Prada, Jil Sander
und andere Designer setzten farbliche Akzente. Nähte
wurden auffälliger. Das alles geschah noch sehr dezent,
war aber unverkennbar. Abwechslungsreich und voller
Fantasie; so präsentierten die Modemacher ihre Modelle.
In ihrer Eleganz waren sie noch zurückhaltend. Doch sie
zeigten eine charmante Auswahl als Gegen-Mode zu
Gallianos Üppigkeit und seiner Exzentrik, die eine
Gradwanderung auf den Höhen des guten Geschmacks war.
Die Schlichtheit der Puristen mit dem zart
durchschimmernden Hauch an Weiblichkeit hatte auch neben
den futuristischen Entwürfen von Donatella Versace
Bestand. Belebende Konkurrenz und modisches
Nebeneinander; so konnte die Branche halt auch sein.
Die jungen Leute hielten getreulich an ihrer bewährten
Garderobe fest, trugen durchsichtige Oberteile, die mit
oder ohne einem Darunter Einblicke gaben oder
verhüllten. Es war längst nichts Schockierendes mehr in
ihrer Kleidung. Das Umfeld hatte sich daran gewöhnt,
selbst an den freien Bauch. Große Neuerungen wurden
weder erwartet, noch waren sie gewollt. Lediglich die
Materialien wurden vielfältiger. Derbe Wollstoffe, Leder
und Filz hatten sich durchgesetzt, was an den Schnitten
nichts änderte. Vorrangig war immer noch Stretch, ein
Material, das eng anliegend die Figur betonte und
bequem
war. Für die Jugend war das ein wichtiges, modisches
Anliegen.
Die Melancholie des Herbstes muss die Designer auf trübe
Gedanken gebracht haben, denn sie erhoben Grau zur Farbe
des Winters. Die Mode zeigte sich hier in allen
unfarbigen Nuancierungen. Hellgrau, dunkelgrau,
blassgrau – erstaunlich wie viele Grautöne sich auf dem
Markt finden ließen. Eine traurige Palette, den nur der
seltsame Kontrast der blau geschminkten Fingernägel und
Lippen abschwächte. Erleichterung brachte die
Frisuren-Mode. Die empfahl nämlich als Trendfarbe für
die Haare Rot in allen Abstufungen.
Designer, die als Quereinsteiger in der Modebranche
Karriere machen, sind selten. Doch es gibt sie. Einer
von ihnen ist Yigal Azrouël. Der israelische Künstler,
der seine Leidenschaft, Mode zu kreiern, zum Beruf
machte, präsentierte 1998 mit 26 Jahren seine erste
Kollektion in New York. Begonnen hatte er wenige Jahre
zuvor mit dem Entwerfen von Hochzeitskleidern. Seine
Premieren-Kollektion ließ seinen zukünftigen Erfolg
erahnen und bald würde sein Name die Grenzen Amerikas
überschritten haben.
Und wenn große Designer eindrucksvolle Spuren
hinterließen, war es den nächsten Generationen ein
Bedürfnis, aus deren Erfolgsmode zu zitieren. Das
Abendkleid mit einem tiefen Rückendekolleté, das an die
Modelle der 30er Jahre erinnerte, war einst von
Madeleine Vionnet entworfen worden. Der Schnitt, den
damals die Grande Dame der Pariser Haute Couture
verwendete, hatte nichts von seiner Eleganz verloren.
Dass es zu so einer Wiederbelebung kam, ist wohl die
schönste Hommage, die dieser Künstlerin zuteil werden
konnte.
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