Das Modejahr
1999 - Die große Bilanz vor dem Millennium
Die internationale Modeszene erweckte den Eindruck, vor
dem Jahrtausendwechsel noch einmal alles ordnen zu
müssen, um mit einem guten Gefühl ins neue Jahr gehen zu
können. Es fand sich zusammen, was gegensätzlich war und
die Mode stand in Bereitschaft, als ob im neuen
Jahrtausend alles von allein neu und futuristisch werden
würde. Vorerst traf akkurate Geometrie auf lockere
Raffungen. Gewagte Kombinationen wurden zum Ausdruck
eines neuen Zeitgefühls, obwohl die dazu
gehörige Zeit
noch gar nicht angebrochen war. Tops in verschiedenen,
geometrischen Formen, deren Urheber bekannte Labels
waren, suchten Unterschlupf in Ballonröcken, die
knöchellang waren, die einen Gummizug im Saum hatten und
für zarte Figuren erdacht waren. Ihre besondere
Anpassungsfähigkeit bewiesen diese Tops im Zusammenspiel
mit Pradas zerschnittenen Falten-Röcken. Was bei der
Garderobe gelang, sollte auch bei den Materialien
möglich sein. Pelz und Nylon verschmolzen miteinander,
ebenso Hightech-Materialien mit den verschiedensten
Naturfasern. Chiffon und Flanell fanden zusammen.
Knitterstoffe harmonierten mit Plastik.
Und „last minute“ erblickte auch noch LUELLA das Licht
der Modewelt. Mit Luella hatte die britischen Designerin
Luella Bartley gerade noch rechtzeitig auf sich
aufmerksam gemacht, bevor das Jahrtausend zu Ende ging.
Jugendliche Frische, Unkonventionalität und Risikofreude
zeichneten diese Marke aus. Ihren Shows gab sie Namen,
die wie Titel hitverdächtiger Songs klangen. Die
Anlehnung an die Musikszene war bewusst gewählt.
Dior, der mit seinem Chefdesigner John Galliano das
große Los gezogen hatte, so schien es zumindest, machte
diesen nun auch noch zum Chef der hauseigenen
Prêt-à-porter-Linie. Damit erwachten in der Branche zu
Recht futuristische Hoffnungen.
Auf allen Modenschauen erweckte man alte Trends zu neuem
Leben. Man zog liebevoll Bilanz, wobei der modische
Blick nicht nur im letzten Jahr hängen blieb, sondern
bis ins letzte Jahrhundert reichte. Was die Jugend trug,
schien sie ins neue Jahrtausend mitnehmen zu wollen.
Ihre Garderobe war immer noch „in“. Der Anblick war
längst alltäglich und niemand störte sich mehr daran.
Nicht einmal am freien Bauchnabel der behüteten Töchter.
Die Normalverbraucher, die sich in der Hauptsache an der
sportlichen Seite der Mode orientierten, waren damit gut
gekleidet. Die Hosen waren bequem und konnten ohne
Knöpfe, ohne Reißverschlüsse oder Gürtel getragen
werden. Die Funktion, ihnen Halt am Körper zu geben,
erfüllte letztendlich auch ein Zugband, manchmal auch
eine Gürtel-Variante im Bund-Tunnel. Zudem waren die
Hosen praktisch, denn sie wurden durch eine Vielzahl von
Cargo-Taschen vervollständigt, die überall, auch an den
Hosenbeinen, aufgebracht waren. Passend dazu waren
Shirts oder Sweatshirts, je nach Wetterlage. Sie wurden
mit oder ohne Kapuze getragen. Besonders „cool“ wirkten
die Jungs, wenn sie die Kapuze sogar benutzten. Das
allerdings unabhängig von der Wetterlage. Auffallen,
ohne erkannt zu werden. So hatte die Bekleidung im
freizeitlichen Alltag ihren unentbehrlichen
Wiedererkennungswert. Es schien, als sei die Jugend
modisch noch lange versorgt.
Viele Jahrzehnte hatte sie dem Manne treue Dienste
geleistet. Sie hatte damit bereits im 18.
Jahrhundert
begonnen und nun sollte sie ausgemustert werden, die
Krawatte. Nein, nur die bunte! Der einfarbige, edle
Schlips durfte natürlich das nächste Jahrtausend
erleben. Ein völliges „Aus“ war undenkbar. Doch was
sollte Mann nun zu einem grauen Hemd um den Hals binden?
Vielleicht eine gleichfarbige Krawatte oder nur ein
Tuch? Die Mode würde sich etwas einfallen lassen und
diese wichtige Frage klären. Zu guter Letzt wurde durch
akribische Buchführung festgestellt, dass die Haute
Couture in künstlerischer Hinsicht unverzichtbar für die
Mode der Zukunft war und weiterhin als kreativer
Wegweiser bestehen bleiben sollte. Damit bekam auch der
Nachwuchs eine Chance, sich zu profilieren und sei es
für die Kollektionen des Prêt-à-porter, deren modische
Gestaltung aus der Szene nicht mehr weg zu denken war.
Der Schritt der Jung-Designer in die Haute Couture war
dann nur noch ein kleiner. Die Modehäuser Hermés hatten
mit Martin Margiela, Louis Vitton mit Marc Jacobs oder
Yves Saint Laurent mit Alber Elbaz bereits ihre Zukunft
eingeläutet.
In der Mode hatten sich bereits die Unterschiede
zwischen Männern und Frauen zu verwischen begonnen. Das
zeigte sich u.a. daran, dass der Männerrock wieder ins
Blickfeld rückte, den einige Mutige bereits auf der
Straße zeigten.
Es war nicht zu übersehen, dass die Mode noch einmal
alles aufbot, ohne etwas wirklich Neues zu präsentieren.
Mode-Ruhe vor dem Sturm, der erst im neuen Jahr
losbrechen sollte? Doch die Idee, Cybermodels anstelle
von Topmodels einzusetzen, war futuristisch gedacht,
aber so fleisch- und seelenlos, dass es hoffentlich nur
eine fixe Idee war. Sollten Puppen die Trends
verbreiten? Das wäre eine Rückentwicklung, die niemand
wollte.
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