Das Literaturjahr 1995 - Tradition des
Professoren-Romans
Der Professorenroman galt in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts als eigene, etwas seltsam
anmutende Ausprägung der Literatur und steht als
Gattungsbezeichnung für von
Wissenschaftlern verfasste
Romane, die inhaltlich meist historische oder
kulturhistorische Themen behandeln. Prominente Namen in
dieser Kategorie sind Felix Dahn und Gustav Freytag,
deren literarische Werke vor allem aufgrund ihrer
Schwerfälligkeit zu eher zweifelhaftem Ruhm gelangten
und deren Bekanntheitsgrad im akademischen Umfeld
weitaus höher zu bewerten ist als auf dem populären
Buchmarkt.
Dass ein „Professorenroman“ durchaus nicht per se mühsam
konstruiert wirken oder schwülstig geschrieben sein
muss, bewies Bernhard Schlink vor allem im Jahr 1995,
als sein später verfilmter Bestseller „Der Vorleser“
veröffentlicht wurde. Der im Jahr 1944 geborene Schlink
ist Professor für Rechtswissenschaft mit den
Schwerpunkten Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie,
vielen ist er jedoch vor allem als begabter und
erfolgreicher Schriftsteller bekannt.
Schlinks literarische Tätigkeit begann bereits vor 1995,
als der begeisterte Leser von Kriminalromanen beschloss,
selbst ein Werk dieses Genres zu verfassen. Gemeinsam
mit dem befreundeten Rechtsanwalt Walter Popp schrieb
und veröffentlichte er den Roman „Selbs Justiz“, der
einen Privatdetektiv mit seiner Vergangenheit als
Staatsanwalt im Dritten Reich konfrontiert. Das zentrale
Thema, um das Schlinks Werk weiterhin kreisen sollte,
war somit festgeschrieben: Die Frage von Schuld und
Sühne, die bereits der russische Romancier Fjodor
Dostojewski im 19. Jahrhundert aufgeworfen und
literarisch aufgearbeitet hatte, führte zu der Frage von
Recht und Gerechtigkeit in der Aufarbeitung der
nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands.
Nach dem Erfolg des ersten Kriminalromans setzte Schlink
die Geschichten um den titelgebenden Detektiv Selb als
Trilogie fort, diesmal als alleiniger Autor. Der letzte
Teil der Reihe wurde mit dem Deutschen Krimipreis
ausgezeichnet.
Mit dem im Jahr 1995 publizierten Roman „Der Vorleser“
veröffentlicht Schlink sozusagen ein
Erstlingswerk, denn
er stellt eine Neuerung im literarischen Werk des
Juristen dar. Erstmals handelt es sich nicht um einen
Kriminalroman. Dass er dennoch das Gespür für
literarisches Schaffen besitzt, beweist Schlink mit
seinem Bestseller eindrucksvoll. Sensibel und einfühlsam
tastet er sich in dem später zur Schullektüre
avancierten Werk an den problematischen Komplex
Holocaust, Schuld und Bestrafung heran. Überraschende
Wendungen konfrontieren den Leser, der sich in die
ersten erotischen Abenteuer eines jugendlichen Schülers
mit einer deutlich älteren Frau involviert glaubt, mit
der Frage nach der Schwere von Schuld und führt am
Beispiel der Analphabetin Hanna eine differenzierte und
dennoch kritische Sichtweise auf die Verwicklung in
Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Nicht nur der
Holocaust selbst wird zum Thema, vor allem der Umgang
der deutschen Justiz der Nachkriegszeit mit den Tätern
wird zum Mittelpunkt der Geschichte und konzentriert
sich um das Aufwerfen ethischer Fragen.
Schlink beweist mit seinem Roman „Der Vorleser“, dass er
ein äußerst sensibles Verständnis von Recht und
Gerechtigkeit besitzt und sein Interesse nicht nur
Gesetzesbüchern gilt. Filigran verarbeitet er sein
akademisches Fachgebiet gepaart mit historischen
Ereignissen in einem Roman, dessen Konzept und Handlung
ein Novum in der Literatur des ausgehenden 20.
Jahrhunderts darstellt und der deshalb mit zahlreichen
Preisen ausgezeichnet wurde.