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Die Literatur der 1900er Jahre
Seit jeher stehen Menschen mit einem gewissen
Unbehagen vor Epochenschwellen, der Beginn eines
neuen Jahrzehnts oder gar eines Jahrhunderts bewirkt
Unruhe, erzeugt das Bewusstsein von Veränderungen
und Umbruchsituationen.
Vor allem die Jahrhundertwende, die vom 19. ins 20.
Jahrhundert überleitete, kann als Paradigma einer
solchen Umbruchssituation betrachtet werden. Die
Literatur ist mehr als nur ästhetische Wortbildung,
sie ist Geschichte, sie ist Zeitbewusstsein und
Zeitkritik, und so spiegelt vor allem die Literatur
in den Jahren 1900 bis 1910 das Phänomen von
Niedergang und Neubeginn, von Epigonentum und
Avantgardismus wieder.
Kaum ein Jahrzehnt der deutschen Literatur war zuvor
oder danach jemals in dem Ausmaß Ballungsraum für
Stilpluralismus und Nebeneinander, wie es diese
Jahrhundertwende war, und für kaum einen Zeitraum
der Literatur können so mannigfaltige literarische
Strömungen bezeichnet werden.
Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war vor
allem der Literatur der Décadence verpflichtet, die
sich seit 1890 von Frankreich kommend in den Werken
der Kunstschaffenden manifestiert hatte. Décadence,
Fin de Siècle, Impressionismus, Symbolismus,
Ästhetizismus, Jugendstil - poetische Programme
bedingten einander, vermengten sich, lösten einander
ab und zeigten in ihrer Vielfalt die unsicher
gewordene Bindung des Menschen dieses Zeitalters,
seinen fehlenden Rückhalt und sein Bedürfnis nach
Orientierung.
Literatur der Décadence ist gleichzeitig Literatur
des Niedergangs und
Literatur des Neubeginns, sie
ist die Literatur der Nervenkunst und die Literatur
des Vitalismus, die Literatur der Lebensmüden und
der Lebenshungrigen. Als Leitbild der Epoche kann
vor allem das Janusgesicht herangezogen werden, die
Gegensätze schlugen sich in den poetischen Werken
nieder und schufen ein Spannungsfeld, dessen Sog
kaum zu widerstehen war.
Zentren der deutschsprachigen Dekadenzliteratur
waren vor allem die Städte Wien, Berlin und München;
namhafte Vertreter dieser einzigartigen Strömung,
die sich dem Ende eines Jahrhunderts verpflichtet
sah, waren beispielsweise Arthur Schnitzler, Hugo
von Hofmannsthal, Stefan George, Thomas und Heinrich
Mann, Rainer Maria Rilke und Frank Wedekind.
Paradigmatisch für das Signum der Epoche ist ein
Titel wie jener, mit dem der Lübecker Mann seinen
Roman "Buddenbrooks" (1901) im Untertitel benannte:
"Verfall einer Familie".
Verfall, Niedergang, Untergang, das waren Motive,
die nicht zufällig für diese Literatur gewählt
wurden, sie verdankten sich den Zeichen der Zeit,
sie waren Symptome einer Krankheit, der sich die
Künstler der Jahrhundertwende ausgesetzt sahen: der
Erschlaffung, der Verfeinerung der Sinne, der Krise
des Zeitalters.
Die ersten Großstädte begannen sich zu formieren,
technische Neuerungen sorgten für Innovationen, die
die Entwicklung fundamental veränderten; kaum ein
Jahrhundert zuvor hatte sich so vielen
wissenschaftlichen Erkenntnissen, Denk- und
Weltbildern ausgesetzt gesehen wie das 19.
Jahrhundert.
Dies alles wirkte sich auf die künstlerische
Produktion aus, der Verfall wurde das Signum der
Epochenschwelle wie auch der Literatur und der Kunst
überhaupt.
Im Rückblick auf vergangene Zeitalter wurde die
Krise der Gegenwart analysiert, untergegangene
Imperien wie Rom wurden im Hinblick auf den so
empfundenen Untergang der eigenen Zeitgeschichte neu
heraufgerufen, Frauengestalten wie Salome, Cleopatra
oder die Königin von Saba wurden zu Gestalten der
Literatur und in dieser mit dämonischen Zügen
ausgestattet.
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