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Literatur des Jahres 2022

Das Jahr 2022 war weltpolitisch ereignisreich: der Fortgang der Corona-Pandemie, der schleppend anlaufende Kampf gegen den Klimawandel, Russlands Krieg gegen die Ukraine, drohende Hungerkrisen wegen fehlender ukrainischer Getreidelieferungen, Energiekrise, Sabotage an russischen Gas-Pipelines, Medikamenten-Notstand wegen Lieferkettenproblemen und dem mit mangelnder Wirtschaftlichkeit begründeter Ausstieg namhafter Medikamenten-Hersteller aus der Produktion. Trotz der Weltlage wurden nationale und internationale Literaturpreise vergeben, Neuerscheinungen veröffentlicht und Buchmessen in Leipzig, Frankfurt und London veranstaltet.

Attentat auf Salman Rushdie

Im August 2022 wurde Salman Rushdie auf einer Literaturveranstaltung in New York durch ein Messer-Attentat schwer verletzt. Nur eine Notoperation rettete dem Schriftsteller das Leben. Rushdie verlor auf einem Auge die Sehfähigkeit. Eine Hand ist nur noch eingeschränkt nutzbar. Man hätte damit rechnen müssen, dass Rusdie weiterhin gefährdet ist. Die Fatwa gegen ihn wurde nie aufgehoben. Eigentlich wollte Rushdie gerade seinen Vortrag beginnen. Thema: Das Leben von ins Exil gezwungenen Schriftstellern, die wegen literarischer Meinungsäußerungen bedroht werden. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen konnte ein schwarz maskierter Mann zur Bühne vordringen und mehrfach zustechen.

Turbulente Lebensgeschichte und Steuerprüfung

Isabel Allende veröffentlichte mit dem Roman "Violeta" erneut eine turbulente Lebensgeschichte. Erzählt wird sie von der Titelfigur Violeta selbst. Allende verriet, dass die Erzählfigur ihrer eigenen Mutter ähnelt. Erzählt wird in typischer Allende-Manier: überbordend, aufmerksam beobachtet und facettenreich erzählt. Der Roman spiegelt ein Jahrhundert Zeitgeschichte. Zwischen 1920 und 2022 fließen politische Umwälzungen und soziale Ereignisfolgen in die Lebensgeschichte der Ich-Erzählerin ein. Allendes Buch macht deutlich, dass zeitgeschichtliche Ereignisse jedes Leben auch persönlich beeinflussen.

Über Elfriede Jelinek kann gestritten werden. Das Cover ihres 2022 veröffentlichten Buches "Angabe der Person" wirkt spröde. Es passt jedoch zum unnahbaren Image der österreichischen Schriftstellerin. In diesem Buch verarbeitet Jelinek ein Ereignis, das sie als traumatisch empfand: eine Steuerprüfung. Erzählerin "Elfie" verarbeitet in ihrem Buch-Monolog die akribisch vorgenommenen Kontrollen der Fahnder. Selbst der Wasserverbrauch der Toilettenspülung wurde überprüft. Das Leben der Schriftstellerin wurde nach eigenem Empfinden bis auf die Grundfesten durchleuchtet. Doch Jelinek bleibt mit ihrem Blick auf die sie betreffenden Dinge nicht bei sich selbst hängen. Sie betrachtet in wortreichen Kaskaden auch Skandale wie CumEx oder Wirecard. Jelinek nannte ihren Roman eine "Lebensbilanz". Trotz persönlicher Einblicke für ungeübte Jelinek-Leser eher schwierig.


Auf See und Blutbuch

Theresia Enzensberger veröffentlichte 2022 mit ihrem Buch "Auf See" eine komplexe Dystopie. In einer autarken, von der Restwelt abgeschnittenen Siedlung mitten auf der Ostsee lebt die siebzehnjährige Yada. Die "Seestadt" wurde für den Fall von Katastrophen von ihrem Vater errichtet. Als Gegenfigur wird Influencerin, Künstlerin und digitale Nomadin Helena ins Spiel gebracht. Sie lebt ohne eigene Wohnung in Berlin. Zunächst beschreibt Enzensberger beide für sich. Dann begegnen sich Yada und Helena. Trotz erzählerischer Komplexität ist der zweite Roman von Enzenzberger ein gut lesbares und spannendes Buch. Es stellt die Frage, wie Zukunft aussehen könnte. Kim de l'Horizons beeindruckte mit seinem Roman "Blutbuch" durch dramaturgische Geschicklichkeit und sprachliche Kunstfertigkeit. Der "Deutsche Buchpreis", der "Schweizer Buchpreis" und der Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung waren als Lohn der schriftstellerischen Mühen gerechtfertigt. Als seine Großmutter dement wird, sucht die geschlechtlich nicht klar zuzuordnende Erzählfigur Kim nach ihren eigenen Wurzeln. Nahaufnahmen auf die Kindheit, bruchstückhafte Erinnerungen an familiäre Konflikte und Familiengeheimnisse werden zum Thema gemacht. Die mütterliche Schweigekultur und das Forschen nach Lücken in der weiblichen Blutlinie dienen der eigenen Identitätsfindung. Kim de l`Horizon gelingt es, eine eigene Sprache für seine dichte Erzählung zu finden. Er etabliert damit eine erfrischend neuartige Art des Familienromans.

Der Schlaf in den Uhren

Uwe Tellkamp brachte mit seinem Buch "Der Schlaf in den Uhren" die Fortsetzung seines Romans "Der Turm" heraus. Seinerzeit noch in eine literarische Reihe mit Thomas Mann gerückt, war Tellkamp in neuerer Zeit eher durch politische Äußerungen medial aufgefallen. Der über 900 Seiten angelegte Fortsetzungsroman widmet sich auf diversen Erzählebenen seiner Hauptfigur. Die Handlung spielt im fiktiven Stadtstaat "Treva". Tellkamp verirrt sich in Rückblenden, die in der Zeit des Mauerfalls spielen. Anspielungen auf den modernen Literatur- und Medienbetrieb sind unübersehbar. Doch was Tellkamp mit diesem Roman-Labyrinth vorhatte, ist ihm leider nicht gelungen. Der Leser wird von der komplexen Geschichte nicht mitgerissen, sondern quält sich angestrengt hindurch. Oder auch nicht.

Fortsetzungen und Buchreihen

Da wir gerade von Fortsetzungen sprechen: Robert Menasse legte 2022 mit seinem Buch "Die Erweiterung" eine Art Fortsetzung für seinen Roman "Die Hauptstadt" vor. Letzterem war 2017 der "Deutsche Buchpreis" zuerkannt worden. Daher durfte man als Menasse-Fan gespannt auf den Nachfolger sein. Menasse befasst sich in seinem neuen Roman mit den Auswirkungen europäischer Politik auf das Leben jedes einzelnen. Menasses Protagonisten entbehren als klischeehaft gezeichnete Typen oft nicht der Komik. Der Autor entwickelt eine Szenerie, die zum Nachdenken anregt. Menasse erweist sich in diesem Buch erneut als kluger Beobachter. Es bereitet ihm spürbares Vergnügen, seine Leser mit erzählerischer Hinterlist auf falsche Fährten zu locken.

Bei Luchterhand erschien 2022 Karl Ove Knausgårds "Der Morgenstern". Das Buch stellt den gelungenen Auftakt zu einer fünfbändigen Buch-Reihe dar. Der Norweger fügte mit seinem Roman der autofiktionalen Literatur neue Facetten hinzu. Knausgård war mit "Der Morgenstern" auch international erfolgreich. Sein Buch erschien zeitgleich in 35 Sprachen. Zur Handlung: Literaturprofessor Arne - nicht der einzige Ich-Erzähler in diesem Buch - beobachtet, wie sich ungewöhnlich viele Tiere im Bereich einer seltsamen Himmels-Lichterscheinung versammeln. Worum es sich dabei handelt, weiß niemand. Leser, die mit rationalen Erwartungen an diese Geschichte herangehen, finden zunächst keinen roten Faden. Die Erzählungen der Ich-Erzähler werden nur lose miteinander verbunden. Jeder steht für sich. Doch mit dem Wunsch nach einem Neuanfang haben sie doch etwas gemeinsam. "Der Morgenstern" steht für die Verheißung von Ereignissen, die alle herbeisehnen.

Neuerscheinungen und literarischen Debüts

Neben unzähligen Neuerscheinungen und literarischen Debüts gab es auch literarische Ereignisse von mehr oder weniger großer Bedeutung. So kündigte Schriftsteller Thomas Brussig im Sommer 2022 an, seine Bücher zukünftig nicht mehr im Verlag S. Fischer zu veröffentlichen. Der Grund: Brussig hatte 2015 offensichtlich eine reale Person für sein Buch "Das gibts in keinem Russenfilm" zur Vorlage genommen. Das Buch war als Parodie auf das autobiografische Genre gedacht. Doch 2022 meldete sich eine der damals skizzierten Roman-Figuren und drohte mit einer Schadenersatzklage. Der S. Fischer Verlag strebte daraufhin eine gütliche Einigung an und beschloss, den Roman nicht länger zu veröffentlichen. Brussig fühlte sich vom Verlag verraten. Der S. Fischer Verlag verlor damit einen seiner Bestseller-Autoren.

Bestseller 2022