Mode 2006 – Mager, morbid und elegant
Sie zierten Modemagazine und trippelten über die Catwalks. Sie waren keine 18 Jahre alt. Das blasse
Gesicht, von langem, glattem Haar umrahmt, ließ
diese Mädels noch schmaler aussehen. Und sie waren
nicht nur in der Mode das am heißesten diskutierte
Thema: die magersüchtigen Models, die ein
gefährliches Schönheitsideal verkörperten. Extra für
sie und um ihre Zerbrechlichkeit noch zu
unterstreichen, verwendeten die Designer Farben, die
dem Ton der Haut ähnlich waren. Hautfarben oder „Nude
Coulors“ gab es in verschiedenen Abweichungen, die
vom „Nude Black“ bis zum „Nude
Pink“ reichten. Diese
Farbgebung wurde zum Hit des Sommers. Erwachsene
junge Frauen sahen kindlich aus wie Schulmädchen.
Die Kleidchen fielen bei den zerbrechlichen Models
gerade einmal knapp über die Knie. Etwas
aufgelockert wurde dieser Look durch
Baby-Doll-Oberteile, die zu sehr engen Jeans
getragen wurden. Auch gestreifte Hosen waren
angesagt. Im Stella-McCartney- oder Miuccia
Prada-Stil wurde das Dünnsein verherrlicht.
Ideal zur Figurbetonung und dennoch das Gegenteil
der „Nude Coulors“ – der Stil der New-Gothic. Hier
war von Unschuld keine Rede. Der Look hatte einen
gewollt morbiden Anstrich. Die schwarzen Kleider
oder Chiffonblusen gefielen mit langen Ärmeln, die
der vermeintlichen Vorstellung von Gespenstern
nachempfunden waren. Es gab die Kleidung auch in
transparentem Schwarz. Hier übertrafen sich
Jean-Paul Gaultier, Riccardo Tisci und Alexander
McQueen mit ihren Laufsteg-Kreationen. Der Grunge
aus den 90ern hatte sich ins neue Jahrtausend
gerettet und war wieder en vogue.
In der zweiten Jahreshälfte geriet der Girlie-Look
ins Abseits. Die Mode – unabhängig von den mageren
Models – wurde mit einem Mal sehr weiblich. Die 60er
Jahre, in denen die Amerikanerin Diane von
Fürstenberg der Modeszene Wickelkleider mit
geometrischen Mustern vorstellte, feierten ihre
Rückkehr in die Moderne. Strickponchos,
Schottenkaros und grobe Tweed-Jacken kamen wieder
und wurden freudig empfangen.
Die Abendmode zeigte sich in der eindeutig
favorisierten O-Silhouette. Der Rock war weit,
konnte wadenlang getragen werden und nach Belieben
durfte er auch hinten länger sein, Bodenberührung
inklusive. Aus dem Hause Chanel, in dem Karl
Lagerfeld Chefdesigner war, kamen Abendkleider, die
mit ihren wehenden Ärmeln und ihrem Material aus
schwarzem Chiffon entzückten.
Die Ähnlichkeit mit
viktorianischen Nachtgewändern fand man apart. Dass
sich auch alles umkehren ließ, zeigte u.a. John
Galliano. Seine Laufsteg-Darsteller waren keine
Models mit perfekten Proportionen. Es waren
Menschen, die man so noch nie auf dem Catwalk
gesehen hatte: dicke und alte, dünne und hässliche,
kleinwüchsige oder sehr große Menschen. Mode für
alle und Provokation zugleich. Diesen Anspruch
erfüllte Galliano damit zweifelsohne. Die Zuschauer
waren verblüfft, manche entrüstet. Doch Galliano, in
dessen Shows auch immer ein wenig Ironie mitschwang,
konnte zufrieden sein. Den Anstoß, den
Schönheitswahn zu hinterfragen, hätte niemand
deutlicher zu geben vermocht.
Friedlicher und ohne großes Aufsehen zu erregen,
fand die Sommermode von Gaultier ihre Anhänger.
Europäische Folklore stand Pate bei seinen
Flamencokleidern und Balkanblusen. Und es dauerte
nicht lange, da hatten folkloristische Patchwork-Jacken die Schaufenster erobert.
Nach wie vor war gute Kleidung nur mit
entsprechenden Accessoires denkbar. Das Land der
Sonnenbrillen-Trends, Italien, brachte eine
Rückbesinnung auf die 60er Jahre hervor. Ganz in
Schwarz und übergroß waren die Modelle des Jahres
2006, die nicht nur vor Sonne schützen sollten,
sondern offenbar auch vor Erkenntlichkeit. Schick
fand man diese Sonnenbrillen dennoch. Im Übrigen
hatten die Männer längst keine Scheu mehr, sich
farbig zu kleiden. Pullover und Hemden fanden in
Rosatönen, Absinth oder Magenta bei den Herren viel
Zuspruch. Kein Problem also für die Kollektionen der
deutschen Doris Hartwich, in denen ein graues Sakko
mit lila Seidenfutter zu etwas Besonderem wurde.
Ruhige Eleganz schloss Farbe nicht aus. Man musste
nur wollen.