Literaturjahr 1903
Literatur in Deutschland
In Russland brach 1903 die Hölle los. Massenpogrome
gegen die Juden fanden in Kischinew durch russische
Christen statt, während die Polizeikräfte tatenlos
zugesehen haben. Es kam zu internationalen
Protesten, während die russische Regierung angab,
die Juden würden einen Aufruhr gegen Zar Nikolaus
II. im Sinne haben, wobei hier wohl eher die
Wirtschaftsmisere mit einer Sündenbock-Politik
überdeckt werden sollte.
Das Land zerfiel nach und nach, in Russland brach
große Hungersnot aus, Armut war weit verbreitet und
Arbeitslosigkeit führte zu weiteren Unruhen. Die
Sozialistische Arbeiterpartei Russlands spaltete
sich 1903 in die Bolschewiki, die Wladimir I. Lenin
folgten und eine revolutionäre Kaderpartei
befürworteten, und in die Menschewiki, die am
Konzept der Massenpartei festhielten. Der große
Terror sollte zwar erst zwanzig Jahre später
ausbrechen, aber durch die Spaltung war bereits der
Grundstein gelegt.
Ein wichtiger Vertreter der lyrischen Front in
Russland war Alexander Blok. Sein erster Gedichtband
erschien 1903. Er und andere Dichter dieser Zeit
standen noch unter dem Einfluss der romantischen
Literatur. Blok sollte später seinen berühmten
Gedichtzyklus, „Die Zwölf“, verfassen, der den
Zusammenbruch der alten russischen Welt
verbildlichte und die Gefahren der neuen Entwicklung
andeutete, später zu einem der bedeutendsten und
prophetischsten Werke wurde, die das Silberne
Zeitalter hervorbrachte. Als hätte er es
vorhausgeahnt, starb er während der großen
Hungersnot 1921 an Skorbut und Unterernährung,
während um ihn herum weiter die Revolution tobte.
Während die Briten 1903 in Tibet einmarschierten,
kam es in Chicago zu einem großen Unglück im „Iroquois
Theater“. Feuer breitete sich aus und mehr als
sechshundert Menschen kamen dabei ums Leben.
Auf dem Gebiet der Literatur wurde 1903 ein neuer
Preis ins Leben gerufen, der „Prix Goncourt“, der
bis heute bekannteste französische Preis in dieser
Kategorie.
Geläufig sind die Tagebücher der Gebrüder Jules und
Edmond de Goncourt, ein wunderbar erfrischendes und
historisches Dokument der damaligen Zeit und
insbesondere der Literatur- und Kunstszene
Frankreichs. Von Picasso bis Monet, von Marcel
Proust bis André Gide tauchen dort alle wichtigen
Figuren des literarischen Lebens auf. Im Jahr 1900
war die „Académie Goncourt“ gegründet worden. Von
dieser wurde der Preis für das beste erzählerische
französische Werk verliehen. Als Edmond de Goncourt
verstarb, legte er in seinem Testament die Gründung
und Stiftung des „Prix Goncourt“ fest. Im Grunde hat
dieser Preis mehr symbolischen Wert, als dass er
besonders hoch dotiert wäre. Ein Buch, das mit
diesem Preis ausgezeichnet wurde, konnte und kann
sich bis heute besserer Verkaufszahlen erfreuen. Den
ersten Preis nahm 1903 John-Antoine Nau entgegen,
für seinen Roman „Force ennemie“.
Von der hohen Ehre des Literaturnobelpreises hatte
dagegen Theodor Mommsen nicht besonders viel, denn
er starb genau ein Jahr nach der Verleihung und
hinterließ nicht nur mehr als tausendfünfhundert
Schriften, sondern auch zwölf Kinder, wobei wiederum
weitere vier noch während der Kindheit starben.
Den nächsten Nobelpreis für Literatur bekam der aus
Norwegen stammende Bjørnstjerne Bjørnson.
Ausschlaggebend war seine „Seelenreinheit“, die
vielseitige Wirksamkeit seiner Werke, die ihre Zeit
überdauerten. Neben den zahlreichen Romanen, schuf
der Schriftsteller auch die norwegische
Nationalhymne.
Eines der beeindruckenden Bücher, die in diesem Jahr
erschienen, war das Werk von Samuel Butler mit dem
Titel „Der Weg allen Fleisches“. Butler war nicht
nur Schriftsteller, sondern auch Maler, Komponist
und Philologe. Er starb ein Jahr zuvor, der Roman,
durch den er bekannt wurde, kam also posthum heraus.
Nicht nur in diesem Werk, sondern auch in dem
satirisch angehauchten „Erewhon“ kreidete Butler die
religiöse und gesellschaftliche Doppelmoral an und
entlarvte sie vehement. Überhaupt war Butler
zwischen den Theorien von Darwin und dem eigenen
Glauben an Gott hin- und hergerissen, was sich in
seinen Romanen deutlich hervorhebt. Butlers Arbeit
hatte großen Einfluss auf Schriftsteller wie James
Joyce, H. G. Wells oder D. H. Lawrence.
Ebenfalls posthum erschien von Émile Zola das Werk
„Wahrheit“. Es gehörte zu einem vierbändigen Zyklus,
den Zola unter dem Begriff „Vier Evangelien“
zusammenfasste. Er beinhaltete die Bände
„Fruchtbarkeit“, 1899 erschienen, „Arbeit“, 1901
gedruckt, „Wahrheit“ und „Gerechtigkeit“. Letzteres
Werk blieb unvollendet.
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