Die Geburt des Rock'n'Roll
Die nächste Entdeckung war die Musik.
Nicht irgendeine. Rock'n'Roll musste es
sein, der vordem – also in Lemmys ersten
zehn Lebensjahren – noch gar nicht
vorhanden war.
Die Charts wurden damals von Frank
Sinatra und Rosemary Clooney beherrscht.
Sinatra hatte mehrere Erfolgsalben
herausgebracht und dudelte mit seiner
wöchentlichen „The Frank Sinatra Show“
über den Äther. Patti Page hatte das
1950er Jahrzehnt schon erfolgreich mit
dem langsamsten aller langsamen
Tenessee-Walzer eingeläutet. Sie hatte
mit „Much Is that Doggie in the Window?“
einen großen Hit, der zwar ein Ohrwurm
und rührend war, aber die junge
Generation nicht vom Stuhl riss.
Das änderte sich erst mit „Razzle Dazzle“
von Bill Haley & The Comets.
„Rock Around the Clock“ und „See You
Later Alligator“ waren die nächsten
Songs, die Lemmy beeindruckten, wobei es
abenteuerlich war, in Wales überhaupt
den richtigen Sender dafür zu empfangen.
Diese Musik spielte damals nur Radio
Luxemburg. In England waren Emile Ford
and the Checkmates bekannt, hielten sich
aber nicht lange, nachdem Emile Ford
nicht mehr dabei war.
Als der Rock'n'Roll aufkam – eine Musik,
die Lemmy begeisterte – waren selbst
Schallplatten noch eine Rarität. Es gab
sie zwar, nur keine Läden, in denen man
sie einfach so kaufen konnte. Man musste
sie bestellen. Nein, doch nicht online,
ha! Weit gefehlt! Sie mussten im Laden
bestellt werden, und bis man sie in
seinen Besitz übernehmen konnte, waren
locker drei bis vier Wochen vergangen.
Lemmys erste Platte, so erzählt er es
selbst, war von Tommy Steele. Während in
den USA Elvis Presley schon erfolgreich
war, wurde Steele zum ersten
Rock'n'Roll-Sänger Großbritanniens. Er
war allgegenwärtig. Man konnte ihn
überall hören. Radio, Kino, Fernsehen
griffen seine Musik auf und selbst
Mitglieder der Königsfamilie wippten
entzückt mit den Füßen, als er bei ihnen
auftrat. Die jugendliche Begeisterung
für Steele und den Rock’n’Roll war so
groß, dass die Zuschauer bei
Live-Konzerten geradezu ausrasteten.
Die Endfünfziger und die beginnenden
60er Jahre waren eine wilde Zeit. In
Deutschland hatte die Produktion der VW
Käfer längst die Millionengrenze
erreicht und die Menschen genossen die
Freuden, die das Wirtschaftswunder für
sie bereit hielt. Die ersten
Rock’n’Roll-Klänge waren dort auch schon
angekommen, aber noch sehr vereinzelt.
Buddy Holly, den US-amerikanische
Rock'n'Roller, der 1959 als
Mittzwanziger starb, weil sein Flugzeug
abgestürzt war, prägte Lemmys
Begeisterung für die Musik einmal mehr,
speziell für den Rock'n'Roll. Hollys
Musik spiegelte, ebenso wie die von
Little Richard, das Lebensgefühl einer
Generation wider, der Lemmy angehörte.
Seiner Einschätzung zufolge hat Buddy
Holly nie ein schlechtes Stück gespielt,
während bei Elvis die B-Seiten immer
Shit waren. Die A-Seiten fand Lemmy,
waren ok.
Ein US-Amerikaner, der Lemmy ebenfalls
zum Vorbild wurde, war der
Rock'n'Roll-Musiker Eddie Cochran, der
mit seinem größten Hit, „Summertime
Blues“, den Zeitgeist der Teenies traf.
Cochran war 21 Jahre alt, hatte eine
Tournee durch Großbritannien hinter sich
und wurde bei einer Taxifahrt schwer
verletzt. Ein Reifen war geplatzt und
das Fahrzeug ließ sich nicht mehr unter
Kontrolle bringen. An den
Kopfverletzungen, die er sich bei dem
unvermeidlichen Aufprall zuzog, starb er
wenige Stunden später. Das war im April
1960.
Geblieben war der Song „Three Steps to
Heaven“, den Cochran kurz zuvor
aufgenommen hatte. Der Titel wurde nach
seinem Tod veröffentlicht. In
Großbritannien war er der Nr. 1-Hit
geworden. Chochran hatte alles, was
Lemmy bewunderte: den unbedingten
Willen, Platten mit eigenen Titeln zu
machen, sie selbst zu produzieren und
auf die Bühne zu bringen. Sein
plötzlicher Unfalltod war erschütternd
für Lemmy. Heute sagt er, dass er wegen
Chochran und Buddy Holly anfing, sich
ernsthaft für Gitarre zu interessieren.
Natürlich ist das nur die halbe
Wahrheit. Wer Gitarre spielen konnte,
beeindruckte die Mädchen, und die waren
für Lemmy neben der Musik schließlich
das Wichtigste. Er hatte erlebt, was
sich für eine Mädchen-Traube um einen
Typen drängelte, der mit einer Gitarre
in die Schule kam. Der konnte gar nicht
spielen, aber es sah toll aus und zog
die Mädchen an. Das war wie bei Eddie
Chochran. Dazu hatte der noch
Gitarren-Riffs drauf gehabt, deren
erotischem Zauber sich kaum jemand
entziehen konnte.
Lemmy hatte Glück. Bei ihm zuhause gab
es eine Gitarre, eine alte
Hawaii-Gitarre von der Mutter. Die waren
in den fünfziger Jahren total angesagt.
Und da die Anziehung auf Mädchen wohl
noch besser funktionierte, wenn man
sogar auf dem Instrument spielen konnte,
begann Lemmy, sich das Gitarrespielen
beizubringen. Es war mühevoll, bis er
als Fünfzehnjähriger endlich „Rock
Around the Clock“ vortragen konnte. Mit
blutigen Fingerkuppen und dem Gefühl,
ein Rockstar zu sein. Wobei die blutigen
Finger allerdings von einer
Ungeschicklichkeit mit einem Klappmesser
herrührten. Aber der Effekt war cool.
Die Klassenfahrt nach Paris, auf der er
während der Zugfahrt endlich sein Können
auf der Hawaii-Gitarre zeigen konnte,
war eines der letzten Erlebnisse von
Lemmys Schulzeit. Wenig später endete
die mit einem Rausschmiss wegen einer
Ungehorsamkeit, nachdem er noch Schläge
vom Schulleiter verabreicht bekam. Die
ließ er sich jedoch nicht gefallen, er
wehrte sich handfest dagegen. Darüber
war dieser „Scheißkerl“ natürlich nicht
amused. Sie trennten sich auf
Nimmerwiedersehen. Bis zum regulären
Ende der Schulzeit verblieb ohnehin nur
noch ein halbes Jahr. Sie vermissten
sich nicht – die Schule und Lemmy.
Außerdem war die Arbeit in der
Reitschule sowieso viel erlebnisreicher.
An der Küste von Wales >>>
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