Der Unbekannte Messias

Zunächst verließ die kleine Familie Stoke-on-Trent, zog ein Stück weiter nach Newcastle-under-Lyme und von da aus nach Madeley. Alles nicht weit voneinander entfernt.
Für den Lebensunterhalt sorgte die Mutter allein. Der Job als Krankenschwester, bei dem sie TBC-Kranke betreute, tägliches Sterben erlebte und sehr unschöne Auswüchse dieser Krankheit sah, rieb sie auf. Drei hungrige Mäuler wollten aber gestopft werden. Doch so ging es halt nicht. Sie schmiss die Arbeit hin, versuchte es als Bibliothekarin. Auch das ging nicht lange.
Etwas geregelter und stabiler – wenigstens kurzzeitig – ging es zu, als die Mutter wieder heiratete und eine Anstellung als Bardame fand.
Der Sohn war inzwischen zehn Jahre alt. Für ihn hatte bereits die Schulzeit begonnen, in der er eine Menge Probleme hatte und den Lehrern auch eine Menge davon bereitete. Schüler zu schlagen gehörte damals zu den angesagten Methoden, Lehrstoff zu vermitteln, wenn sie sich anderweitig weigerten, den zu lernen. Kilmister beispielsweise weigerte sich zu stricken. Das reichte für regelmäßige Prügel aus. Die hielt er aus. Das Stricken nicht, schließlich war er keine Memme.
Erziehung war in jener Zeit eine Sache, bei der das Wort der Erwachsenen Gesetz war und das bei Nichtbefolgen unweigerlich Strafen nach sich zog. So wurden sich die Lehrer und der Junge nie richtig einig. Nur einmal herrschte gegenseitiges Einvernehmen, als der Junge die Schule verließ. Vorher machte er noch eine „außerirdische“ Phase durch, denn nach der Heirat der Mutter war die Familie in das Haus von George Colin in Benllech gezogen, das auf der walisischen Insel Anglesey lag.
Da war der Junge als Engländer unter etwa 700 Walisern ein Außerirdischer, wurde auch so behandelt. Belustigungen aller Art wurden auf seine Kosten ausgetragen. Freunde fand er keine. Damals war er ziemlich verschlossen, beobachtete aufmerksam und blieb zurückhaltend. Ihm entging nicht viel. Und verschlossen ist er heute nicht mehr.
Seine eigenen Worte: „Rock’n’Roll bringt dein eigenes Ich zum Vorschein.“
Was aus der walisischen Zeit blieb, war der Name, mit dem er dort von irgendeinem Schüler oder Lehrer betitelt wurde – Lemmy.
So erklärt er die Herkunft jedenfalls selbst. Klar, das untertänige Um-Geld-Betteln beim Manager von Hawkwind: „Lemmy a quid ‘til Friday?“ („Kannste mir bis Freitag ‘n Pfund leihen?“) wäre auch eine schöne Erklärung.
Alles klar?
Der Stiefvater, George Willis, ein Fußballprofi bei den Bolton Wanderers, hatte eine eigene Fabrik und brüstete sich damit, dass er sich alles selbst erarbeitet hatte. Die Ehe war gerade drei Monate alt, da kam für den Hersteller von Schaufenster-Schuhständern aus Plastik das große Aus. Die Fabrik war pleite. Das hatte er sich wohl auch selbst erarbeitet. Irgendwie fand er aber immer einen Dreh, etwas zu beschaffen und zu verkaufen, auch wenn er dafür gesiebte Luft schnuppern musste. Solche vergitterte Abwesenheit nannte er Geschäftsreise und die Familie glaubte ihm das anfangs auch.
Mit dem Stiefvater kam Kilmister ganz gut aus, weniger jedoch mit den Kindern, die er mitgebracht hatte. Diese beiden, Patricia und Tony, waren älter als Lemmy und machten sich einen Heidenspaß daraus, ihn dauernd zu drangsalieren. Für die Mutter war ihr leiblicher Sohn natürlich das Ein und Alles, was das Verhältnis zum Stiefvater immer etwas herausforderte und für Spannungen sorgte. Da war sie wie eine Löwin, die ihr Junges verteidigt. Mutter eben.
All das, was ein Junge in dem Alter tut, findet nicht immer den Segen der Erwachsenen, das ist heute noch so.
Lemmy war da keine Ausnahme. Er war die meiste Zeit des Tages sich selbst überlassen, hatte dennoch keine Langeweile. Schließlich wollte seine jungenhafte Neugier befriedigt werden und sei es beispielsweise durch das Spielen mit Plastiksprengstoff. Den nämlich hatten Bauarbeiter mit all ihrem Werkzeug in einem Bauwagen aufbewahrt, um im Frühjahr die Erneuerung der Kanalisation zu beenden. Sie hatten nicht mit dem Einfallsreichtum von Lemmy und den anderen Zehnjährigen gerechnet. Die Kinder, für die das Ganze ein spektakuläres Abenteuer war, amüsierten sich über die Äußerungen des Dorfpolizisten und der Schaulustigen, die von der Explosion aufgeschreckt angerannt gekommen waren und nun rätselten, warum das halbe Kliff ins Meer gerutscht war.
Die fünfziger Jahre, in denen Lemmy allmählich ins Teenager-Alter kam und nach den Mädchen Ausschau hielt, waren im Vergleich zur heutigen Zeit unschuldig.
Schön, sagen manche.
Entsetzlich, erinnern sich die, die diese Unschuldszeit erlebten und doch so gern sündige Schuld auf sich geladen hätten.
Zunächst verließ die kleine Familie Stoke-on-Trent, zog ein Stück weiter nach Newcastle-under-
Zu denen gehörte Lemmy. Daran gewöhnt, dass seine Mutter hin und wieder einen Liebhaber-Onkel mitbrachte – schließlich war der Stiefvater oft auf „Geschäftsreise“ -, nahm er den Liebesakt als solchen naturgegeben zur Kenntnis und fand absolut nichts Anstößiges daran. Im Gegenteil, er spürte zeitig die Verlockung, seinen Gelüsten ebenfalls nachgeben zu können und zwar nicht allein. Bis es aber soweit war, vergingen noch drei Jahre.
Mit vierzehn Jahren gab es für ihn nach eigenen Aussagen kein Halten mehr. Ohne Ansehen der Figur, des Alters, der Hautfarbe oder sonstiger weiblicher Eigenheiten, sammelte er ausgiebig Erfahrungen mit Mädchen. Die Gelegenheiten boten sich ihm zur Genüge. Er arbeitete in einer Reitschule. Pferde hatte er schon immer gemocht. Zudem wimmelte es in der Reitschule in den Ferien von Collegestudentinnen.
Es gab jedoch noch mehr als Sex. Den allerdings hatte er erst einmal für sich entdeckt. Und der wurde ihm wichtig wie später Drugs und die Musik. Diese drei Dinge wurden die „Stützpfeiler“ in Lemmys Leben.

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