Geschichte der Sinti und Roma
Mit ihnen verbinden sich viele Klischees, beispielsweise
Lagerfeuerromantik oder virtuose Geigenmusik. Aber mehr
noch: viele Vorurteile, wie Landstreicher, Bettler,
Diebe oder Betrüger. Die Rede ist von der
Minderheitenvolksgruppe der Sinti und Roma, im
deutschsprachigen Raum lange Zeit auch „Zigeuner“
genannt.
Erst in den letzten 20 bis 30 Jahren gelang es Sinti und
Roma, sich in West- und Mitteleuropa mehr Respekt und
Anerkennung zu erkämpfen. Ansonsten blicken sie jedoch
auf eine über 600-jährige, meist durch Verfolgung und
Leid geprägte Vergangenheit in Europa zurück. Besonders
in den Ländern Osteuropas ist die Diskriminierung der
Roma auch heute noch trauriger Alltag. Insgesamt leben
in Europa heute rund zehn Millionen - andere Quellen
sprechen von 15 Millionen - Sinti und Roma, davon der
größte Teil in Jugoslawien und Osteuropa. In Deutschland
leben um 80.000 Sinti und Roma.
Der zumeist abwertend gemeinte deutsche Fremdbegriff
„Zigeuner“ für die Volksgruppe der Sinti und Roma reicht
bis ins Mittelalter zurück und stammt
höchstwahrscheinlich vom alttürkischen „Tschigan“, was
soviel wie „Habenichtse“ oder „Arme Leute“ bedeutet.
Weitere
Fremdbezeichnungen für die Roma und Sinti sind unter
anderem im Englischen „Gypsy“, im Französischen „Gitan“,
im Spanischen „Gitano“ und in Skandinavien „Tatern“.
Die Roma und Sinti sprechen neben der jeweiligen Sprache
des Landes, in dem sie Bürger sind, „Romanes“ als zweite
Muttersprache. „Romanes“, so wurde im 18. Jahrhundert
mittels sprachwissenschaftlichen Untersuchungen
festgestellt, ist mit der altindischen Hochsprache
Sanskrit verwandt, was den indischen Ursprung der Sinti
und Roma belegte.
Während die International Roman Union - die seit 1979
mit beratendem Status bei der New Yorker UNO eingetragen
ist - weltweit die Kurzbezeichnung „Roma“ präferiert,
bezeichnen sich die seit Jahrhunderten im
deutschsprachigen West- und Mitteleuropa lebenden
Mitglieder als „Sinti“ (im französischen Sprachraum „Manouches“)
und die aus Ost- beziehungsweise Südosteuropa
zugezogenen Mitglieder als „Roma“. Beide Gruppen
unterscheiden sich hauptsächlich durch geringfügige
Sprachabweichungen und oberbegrifflich bezeichnen sich
auch die Sinti als Roma.
Die Urheimat der Sinti und Roma war Punjab, ein Gebiet
im Nordwesten Indiens und im Osten des heutigen
Pakistans. Dort lebten sie je nach Kaste ihres
Hinduglaubens als Landbesitzer,
Krieger, Bauern oder Handwerker. Unter anderem hatten
sie als Waffen-, Gold- und Silberschmiede große
Fertigkeiten erworben. Viele Gruppen gehörten damals
einer Kaste an, die sich Domba nannte. In Romanes heißt
„Dom“ bis heute „Mann“ und „Domni“ heißt „Frau“. Die
Selbstbezeichnung „Roma“ ist auf die alte Bezeichnung
„Rom“ für „Mann“ und „Romni“ für „Frau“ zurückzuführen,
was im übertragenen Sinn „Mensch“ bedeutet.
Bis zum heutigen Tag sind Spuren dieser alten
hinduistischen Wurzeln in der Kultur der Roma lebendig
geblieben. Die griechischen Elemente, die ebenfalls im „Romanes“
zu finden sind, sind auf den Einfluss von Alexander dem
Großen (356 bis 323 vor Christi) zurückzuführen, der
sich für einige Jahre in der Region aufhielt und sogar
Städte gründete. Beispielsweise sind noch heute Zahlen
und viele Bezeichnungen für Handelsgüter im Romanes und
Griechischen fast identisch.
Zu massiven Umwälzungen in der Region Punjab kam es -
auch in religiöser Hinsicht - mit dem Einfall
moslemischer Eroberer etwa ab Ende des 10. Jahrhunderts.
Die Eindringlinge verschleppten damals massenhaft
Bewohner aus Punjab als Sklaven und Soldaten. Die
nächste moslemische Plünderungs- und Eroberungswelle in
der Region fand im 11. Jahrhundert statt, als weitere
rund 500.000 Einheimische als Gefangene - zumeist auf
den Balkan - verschleppt wurden.
Dort wurden sie unter anderem an Landbesitzer nach
Rumänien, Griechenland, Serbien, in die Walachei oder
nach Transsylvanien als Sklaven verkauft. Einige Gruppen
verblieben aber auch in Pakistan, in Afghanistan, im
Irak, dem Iran und in Indien. Die einzige Chance, der
Sklaverei zu entgehen, war damals der Übertritt zum
Islam. Durch Assimilation und Zuflucht im Reich der Rum
Seldschuken gelangten beispielsweise viele konvertierte
Sinti und Roma auch in die Region des späteren
Osmanischen Reiches - der heutigen Türkei.
In West- und Mitteleuropa wurden Sinti und Roma bis Ende
des 15. Jahrhunderts in fast allen Ländern urkundlich
erwähnt - in Deutschland erstmals 1407 in Hildesheim.
Anfänglich wurden die geflohenen Roma-Sklaven aus
Osteuropa durch einen Schutzbrief König Sigismunds aus
dem Jahr 1423 geschützt und man gestand ihnen ihre
eigene Gerichtsbarkeit bei Streitfällen innerhalb ihrer
Volksgruppe zu.
Ihre Musik und ihre handwerklichen Fähigkeiten, die sie
aus Indien mitgebracht hatten, führten dazu, dass sie
anfänglich besonders beim Adel sehr beliebt waren. Diese
Jahre gelten heute als „Goldenes Zeitalter“. Doch
schnell brachten ihnen ihre Talente vielerorts auch den
Neid der einheimischen Zünfte ein. Und, obwohl viele den
Glauben ihrer neuen Heimat annahmen, verurteilte die
Kirche die Zigeuner wegen Ausübung der Wahrsagekunst,
die ihrer Meinung nach nicht mit den christlichen
Grundüberzeugungen vereinbar war.
Ende des 15. Jahrhunderts wurde dann in vielen
Kleinstaaten des Deutschen Reiches der Schutzbrief von
König Sigismund außer Kraft gesetzt. Ähnlich wie die
Juden dieser Zeit wurden sie für allerlei Übel -
Krankheiten oder Unglücke - verantwortlich gemacht. Sie
durften ihr Handwerk nicht mehr ausüben, wurden ihres
Besitzes beraubt, des Landes verwiesen, eingesperrt oder
konnten straflos getötet werden, wenn sie auf fremdem
Landeigentum angetroffen wurden. Damals begannen die
ehemals sesshaften Roma und Sinti, zu einem „fahrenden
Volk“ zu werden. Sie zogen nun als Händler von Ort zu
Ort, lebten zurückgezogen in Wäldern und Sümpfen und
trafen sich nur noch in unwegsamen, entlegenen Gegenden.
Erst im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) waren die
Geächteten als Soldaten wieder allerorts willkommen.
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts sowie auch im 19.
Jahrhundert wollte man Sinti und Roma dann wieder zur
Sesshaftigkeit bewegen. Besonders die österreichische
Kaiserin Maria Theresia verfolgte eine umfassende
Eingliederungsstrategie. Allerdings zu einem hohen
Preis: Die Sinti und Roma sollten zu diesem Zweck ihre
kulturelle Eigenständigkeit aufgeben. Unter anderem kam
es zu staatlichen Zwangsdeportationen von
Zigeunerkindern, um sie einem „ordentlichen“
Lebenswandel zuzuführen. In dieser Zeit wurde auch das
Vorurteil geboren, dass Zigeuner kleine Kinder rauben.
Nur wurde übersehen, dass es in erster Linie die eigenen
Kinder waren, die die Roma und Sinti zurückholen
wollten.
1864, mit dem Ende der Leibeigenschaft in Rumänien und
der beginnenden Industrialisierung in West- und
Mitteleuropa kam es zu einer neuen Roma-Flüchtlingswelle.
Endlich vom Joch der Sklaverei befreit, hofften viele
auf eine neue Existenz in West- und Mitteleuropa. Doch
die Vorurteile gegen Roma und Sinti waren auch in West-
und Mitteleuropa nach wie vor lebendig. Sie wurden
staatlich überwacht, wie beispielsweise seit
1899 in
Bayern. „Zigeuner ohne deutsche Staatsangehörigkeit“
wurden rigoros des Landes verwiesen und zudem waren
Sinti und Roma bei der Berufsausübung eingeschränkt.
Trotzdem gab es im Laufe der vorangegangenen 500 Jahre
aber auch Regionen, in denen Sinti und Roma einen
anerkannten Platz in der Gesellschaft gefunden hatten.
Im 20. Jahrhundert kämpften viele Sinti und Roma erneut
als Soldaten - diesmal im
Ersten Weltkrieg. Doch obwohl
viele ihr Leben für ihr Land ließen und die Überlebenden
oft hohe Tapferkeitsauszeichnungen erhielten, drohte
ihnen nach Kriegsende erneut die Arbeitslosigkeit und
damit die Möglichkeiten legal ihren Lebensunterhalt zu
verdienen. Sie galten vielerorts nach wie vor als Bürger
zweiter Klasse - ja mehr noch, als unerwünscht. 1926
wurde beispielsweise - wieder in Bayern - ein Gesetz
„zur Bekämpfung der Zigeuner, Landfahrer und
Arbeitsscheuen“ verabschiedet und beim Münchner
Polizeipräsidium eine
„Zigeunerpolizeistelle“ als gesamtdeutsche Erfassungs-
und Überwachungszentrale eingerichtet. Doch das
Schlimmste stand den Sinti und Roma im 20. Jahrhundert
erst noch bevor.
Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, begannen
diese, die Verfolgung der Sinti und Roma, damals oft
„Landfahrer“ genannt, gezielt auszuweiten. Es wurden
landesweite, staatlich empfohlene Razzien auf Zigeuner
veranstaltet, um die angestrebte Vernichtung der
unerwünschten Minderheit systematisch und akribisch
voranzutreiben. Bereits
1936 wurden die ersten Zigeuner
im KZ Dachau inhaftiert und bis Kriegsende starben rund
eine halbe Million Sinti und Roma aufgrund der
nationalsozialistischen Rassengesetze.
Doch auch nach Kriegsende ging die Diskriminierung
weiter. Der Völkermord an den Sinti und Roma, der tiefe
Traumata bei den Betroffenen hinterließ, wurde lange
Zeit nicht im gleichen Maße in der deutschen
Gesellschaft aufgearbeitet, wie der Holocaust an der
jüdischen Bevölkerung. Erst in den 1970er Jahren
entstand eine aktive Bürgerrechtsbewegung der Sinti und
Roma, die auf ihre Anliegen und die Ungerechtigkeit
ihrer Situation mittels öffentlichen Veranstaltungen
aufmerksam machten.
Zum entscheidenden Durchbruch kam es, als 1982 der
damalige Bundeskanzler
Helmut Schmidt eine Abordnung des
Zentralrats der deutschen Sinti und Roma empfing und die
erlittenen NS-Verbrechen als Völkermord aus
Rasse-Gründen anerkannte. Sein Nachfolger
Helmut Kohl
bekräftigte dies noch einmal im Jahr 1985. Mitte der
1980er Jahre gelang es dem Zentralrat der Sinti und Roma
zudem, endlich Neuentscheidungen hinsichtlich früherer,
diskriminierender Entschädigungspraktiken für
Holocaust-Überlebenden ihrer Volksgruppe zu erreichen.
Im Jahr 2012 wurde endlich auch ein lang angestrebtes
zentrales Holocaustdenkmal zur Erinnerung an alle
ermordeten Roma und Sinti in Berlin in einer offiziellen
Gedenkstunde feierlich eingeweiht. Teilnehmer waren
unter anderem Bundespräsident Joachim Gauck,
Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie Bundestagspräsident
Norbert Lammert und Klaus Wowereit, Regierender
Bürgermeister von Berlin.