Literaturjahr
1922 – Kriegserlebnisse wurden literarisch
verarbeitet
In dem Jahr, in dem Walther Rathenau (1867-1922) im
Januar zum Außenminister der Deutschen
Reichsregierung ernannt und am 24. Juni 1922
ermordet wurde, erklärte der Reichspräsident
Friedrich Ebert das „Lied der Deutschen“ des
Lyrikers Heinrich Hoffmann von Fallersleben
(1798-1874) zur offiziellen Nationalhymne. Die Musik
dazu war die einstige österreichisch-ungarische
Kaiserhymne von Joseph Haydn (1732-1809).
Die Schriftsteller jener Zeit befanden sich in einem
Wirrwarr des noch kaum verdauten Geschehens des
Ersten Weltkriegs, der aktuellen deutschen Politik
und ihrer reinen Poesie. Das Angebot an
Neuerscheinungen war enorm. Der literarische
Nachholbedarf war noch lange nicht gestillt. Bei den
Verlegern lagen Manuskripte, die vor dem Krieg
eingegangen waren und
jetzt erst in Augenschein
genommen wurden. Gerade die jungen Literaten waren
ungemein produktiv.
Aber auch die ernsthaften Auseinandersetzungen mit
den Umwälzungen in der Politik schlugen sich in
Romanen, Gedichten und Erzählungen nieder. Das war
nicht nur in Deutschland so. Auch andere europäische
Länder hatten auf ihre Weise mit den Kriegsfolgen zu
tun und waren dementsprechend künstlerisch aktiv.
Den Buchverkäufen waren allerdings durch die
inflationäre Entwicklung Grenzen gesetzt. Die Kosten
für Druck und Papier waren hoch, das Papier war zur
Mangelware geworden. Das wiederum machte sich am
Verkaufspreis bemerkbar. Vom 20fachen des
sogenannten Friedenspreises, wie der Preis des
Jahres 1913 genannt wurde, ging er bis zum
Jahresende 1922 auf das 300- bis 500fache. Die
Menschen hatten trotz des ungestillten
Lesebedürfnisses dennoch andere Sorgen. Schließlich
musste das tägliche Brot ebenfalls beschafft werden.
Die Schwerpunktthemen, die sich um den Ersten
Weltkrieg rankten, waren in den Neuerscheinungen
zwar vordergründig, ebenso wie Auseinandersetzungen
mit der Demokratie in Deutschland, aber die Leser
selbst favorisierten größtenteils Bücher, die
unterhaltsam waren. Sie sollten spannend und in
einer leichten, flüssigen Art geschrieben sein.
Besonders bevorzugt wurden Kriminalromane und
Sciencefiction-Literatur.
James Joyce (1882-1841), der irische Schriftsteller,
hatte seinen Roman „Ulysses“ 1921 vollendet, der am
2. Februar 1922 in Paris erschien. In deutscher
Sprache kam der Roman erst 1927 in die
Buchhandlungen. Dieses Buch war in den Jahren 1914
bis 1921 entstanden, es war 1918 bis 1920 in
Auszügen in der Zeitschrift „The Little Review“
erschienen. James Joyce nahm mit diesem Roman
bedeutenden Einfluss auf die Geschichte des modernen
Romans. Er hatte einen Prototyp geschaffen, mit dem
er zu einem der bedeutendsten Autoren wurde.
Auch Bertolt Brecht (1898-1956) machte im Jahr 1922
besonders auf sich aufmerksam. Der Dramatiker und
Lyriker erlebte die Inszenierung „Trommeln in der
Nacht“, das erste Stück, das von ihm aufgeführt
wurde. Die Uraufführung hatte am 23. September unter
der Regie von Otto Falckenberg (1873-1947) in den
Münchner Kammerspielen stattgefunden. Die Handlung
stand im Kontext zu den Berliner Januaraufkämpfen,
die als Spartakusaufstand in die Geschichte
eingingen. Brecht wurde für dieses Stück im selben
Jahr mit dem Kleist-Literatur-Preis ausgezeichnet.
Der US-amerikanische Lyriker Edward Cummings
(1894-1962), dessen Werk vorwiegend aus
Lyrikbänden
bestand, hatte im Jahr 1922 seinen ersten und
einzigen Roman veröffentlicht – „ The enormous room“
(„Der ungeheure Raum“). Darin hatte Cummings in
einer experimentellen Schreibweise autobiografische
Kriegserlebnisse verarbeitet.
In Frankreich sorgte der christliche Autor François
Mauriac (1885-1970) mit seiner
Roman-Veröffentlichung „Le baiser au lépreux“ („Der
Aussätzige und die Heilige“) für Aufsehen. Mauriac
galt zwischen den Weltkriegen als einer der
bedeutendsten Romaciers jener Zeit. Er war ein
wichtiger Vertreter des „renouveau catholique“, der
sich um 1890 entstandenen linkskatholischen
Bewegung. Später, im Jahr 1952, wurde Mauriac mit
dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Den Literaturnobelpreis, der im Jahr 1922 verliehen
wurde, bekam der spanische Dramatiker Jacinto
Benavente y Martinez (1866-1954), der mit seinen
fast 200 Stücken das spanische Theater belebt und
die ruhmvolle Tradition fortgesetzt hatte.
Die Frauenbewegung freute sich über das Erscheinen
eines neuen Romans von Sidonie Gabrielle Colette
(1873-1954), die sich ab 1923 nur noch schlicht
Colette nannte. Der 1922 veröffentlichte Roman hieß
„La maison de Claudine“ („Claudines Mädchenjahre“).
Zudem hatte das Feuilleton des „Matin“ den kleinen
Roman „Le Biè en herbe“ („Unreifes Getreide“)
begonnen, abzudrucken, der sich mit dem Thema der
sexuellen Initiation eines Jugendlichen durch eine
ältere Frau auseinandersetzte. Viele Leser waren
derart entrüstet, dass der Abdruck abgebrochen
werden musste. An Colettes Anerkennung in der
emanzipatorischen Bewegung änderte dieser Abbruch
nichts.
„Siddartha – Eine indische Dichtung“, der Roman von
Hermann Hesse (1877-1962), erschien ebenfalls im
Jahr 1922 und setzt sich mit dem legendären
Lebensweg des indischen Religionsstifters Siddartha
Gautama Buddha auseinander.
Außerdem erschien die Schrift von Ernst Jünger
(1895-1998), „Der Kampf als inneres Erlebnis“, in
der er den Kriegsausbruch als den Beginn wahren
Menschseins feiert. Sein anti-demokratisches und
elitäres Frühwerkt wurde der sogenannten
Konservativen Revolution zugerechnet. Jünger kämpfte
vehement gegen die Weimarer Republik. Umstritten
blieb in der Forschung bis heute, ob Jünger als
intellektueller Wegbereiter des Nationalsozialismus
angesehen werden kann. In den frühen 1930er Jahren
jedenfalls distanzierte er sich jedenfalls
von der
nationalsozialistischen Ideologie, weil er den
Totalitarismus der NS-Massenbewegung als geistlos
empfand.
Der Leipziger Verlag Insel brachte von Stefan Zweig
(1881-1942) „Amok – Novellen der Leidenschaft“ auf
den Markt. Die Erzählungen befassen sich mit
Menschen, die in einer einzigen, meist
selbstzerstörerischen Leidenschaft verstrickt sind.
Zu den Schriftstellern, die sich 1922 aus dem Leben
verabschiedeten gehörte beispielsweise der
australische Autor und Poet Henry Lawson
(1867-1922). Lawson hatte in progressiven
Zeitschriften Gedichte und Kurzgeschichten
veröffentlicht, wurde aber neben seiner beachteten
literarischen Arbeit auch durch seine Betteleien auf
den Straßen Sydneys bekannt, mit denen er seine
Trunksucht finanzierte. Das wiederum machte ihn
sogar zu einer der berühmtesten Persönlichkeiten
Australiens. Als Lawson am 2. September im Alter von
55 Jahren gestorben war, bekam er ein
Staatsbegräbnis.
Das Jahr 1922 war auch das Todesjahr des Schweizer
Schriftstellers Philippe Godet (1850-1922). Godet,
der posthum 1923 mit dem Großen Schillerpreis geehrt
wurde, war auch als führender Literaturhistoriker
und Kritiker der Romandie bekannt geworden. Zu
seinem Werk gehörten vor allem Gedichte und
Theaterstücke.
Der bedeutende französische Schriftsteller Marcel
Proust (1871-1922), dessen Hauptwerk „Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit“ in sieben Bänden als
Monumentalwerk zu den bedeutendsten Werken des 20.
Jahrhunderts gehört, starb am 18. November. Proust
wurde auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise
begraben.
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