Franz Liszt Biographie
Dieses Konzert am 21. Juni 1824 werde ich nie
vergessen. Es war
überwältigend. Später, als sich Clementi mit mir unterhielt und mich zu
sich und seiner Familie einlud – er lebte ja in England – da habe ich
ihm voller Scham von meiner einstigen Ablehnung erzählt. Er war schon
über siebzig und zollte mir, dem noch nicht ganz Dreizehnjährigen, große
Bewunderung. Über meinen Verdruss, seine Werke spielen zu müssen,
haben wir sehr gelacht und mein einstiges Unbehagen ist großem
Respekt gewichen. Auch Czerny gegenüber, dessen Hartnäckigkeit ich
meine Erfolge nicht zuletzt verdanke.
Vater, mein lieber Vater, morgen wirst du hier in Boulogne-sur-Mer auf
dem Climetière de l’Est begraben, fernab deiner Heimat. Niemand ist
hier, um dich zur letzten Ruhe zu geleiten, nur Henry Holt, der
Hotelier,
in dessen „Hibernian“ wir wie immer abgestiegen sind, der nette Sylvain
Bilot, der im Rathaus arbeitet und der zweite Bürgermeister, Alexandre
Lorgnier, mit dem du dich so gut verstanden hast. Ich werde dir einen
Trauermarsch schreiben, Vater. Es ist schlimm, aber für einen Grabstein
haben wir kein Geld derzeit. Einiges hast du bei Esterházys angelegt.
Meine Zukunft wolltest du absichern. Bares haben wir hier kaum. Den
Flügel, ja, ich werde meinen Èrard-Flügel verkaufen. Deine Beerdigung
soll würdevoll sein, auch wenn sie sehr bescheiden ausfällt. Das Geld
reicht dann auch, um hier alles zu begleichen. Ich werde nach Paris
zurückkehren und die Mutter zu mir nehmen. Haben wir jemals so viel
miteinander geredet, Vater, wie ich es jetzt verzweifelt allein und
wortlos
mit dir tue? Ach, könntest du mir antworten. Ich weiß so wenig von dir
und
habe doch noch so viele Fragen. Hast Du Haydn wirklich gut gekannt?
Du wohntest damals in Fochtenstein, als er am Hofe Esterházys war.
Seid ihr tatsächlich zusammen spazieren gegangen? Worüber habt
ihr gesprochen? Was war Hummel für ein Mensch? Und wie wird dein
eigener Vater reagieren, wenn ich ihm die traurige Botschaft schreiben
werde? Wie soll ich die Mutter trösten? Vater, lieber Vater, hab’ Dank
für
alles, was du für uns getan hast.
Es war September geworden. Die ersten Herbstwinde wirbelten Laub auf.
Anna Liszt saß mit ihrem Sohn im Salon. Jetzt, da sie ihre gemeinsame
Wohnung in der Rue Montholon, Nummer 7, bezogen hatten, nahmen
sie sich deutlicher denn je wahr. Seit Franz’ Rückkehr nach Paris hatten
sich die Ereignisse überschlagen. Er hatte sich für kurze Zeit in der
Rue
Coquenard eingemietet, um eine Wohnung für sich und die Mutter zu
suchen. Die fand sich schnell, und schon zwei Wochen, nachdem Anna
die schreckliche Nachricht erhalten hatte und zugleich die Bitte, zu
ihrem
Sohn zu kommen, war sie nach Paris gereist.
Ihre Blicke suchten einander und schienen sich doch auszuweichen.
Franz Liszt meinte, die Mutter sei auffallend ergraut. Doch ihr offener,
freundlicher Blick schien unverändert, auch wenn ihre Augen von einer
nicht zu übersehenden Röte umrändert waren. Die Nachricht vom Tode
ihres Adam hatte die Neununddreißigjährige so überraschend getroffen,
dass sie nicht gleich in der Lage war, ihr ganzes Gottvertrauen in
Schicksal ergebene Einsicht und Kraft zu verwandeln, von der sie spürte,
dass ihr Franzl diese dringend brauchte. Bei ihrer Ankunft hatte sie
ihren
Schrecken mühsam verbergen müssen, den Sohn derart mager und blass
zu sehen. Die langen Haare, die er in der Mitte gescheitelt trug und die
ihm schon bis zum Kinn reichten, machten sein Gesicht nach schmaler,
als es ohnehin war. Franz war froh, dass er die Mutter bei sich hatte
und
er zeigte es ihr durch einen besonders liebevollen Umgang, von dem er
hoffte, dass er der Mutter ein klein wenig Trost sein konnte. Über den
Tod des Vaters hatten sie bisher kaum gesprochen. Doch jetzt, da sie
in der gemeinsamen Wohnung saßen, ihnen ein neuer Lebensabschnitt
bevorstand, waren die Erinnerung und die Trauer übermächtig. In die
Stille hinein klang plötzlich Anna Liszts leises Auflachen. „Was ist mit
Ihnen, liebste Mutter?“, fragte Franz verwundert. Die Mutter senkte ein
wenig beschämt den Blick. Dann atmete sie tief durch, schaute ihrem
Sohn ins Gesicht und sagte: „Hoppadatschig, richtig hoppadatschig war
er oft.“ Franz war einen Moment lang unfähig zu reagieren, aber dann
brach ein schallendes, befreiendes Lachen aus ihm hervor. „Ja, ich
erinnere mich! Sie haben das oft zu ihm gesagt, weil er nie so ganz
steif
und vornehm sein konnte, wie es die Etikette vorschrieb.“ Anna Liszt
hatte mit einem Mal ein sehr heiteres Gesicht. Sie spürte, dass ihr Adam
nicht in eine nur mit Schmerz beladene Erinnerung versinken würde,
sondern von nun an in ihrem und des Sohnes Leben einen neuen Platz
eingenommen hatte. Sie nahm ihren Sohn in die Arme, strich ihm über
die Haare und sagte wie zu sich selbst: „Und dass ich das immer in
meinem österreichischen Dialekt gesagt habe, hat ihn so sehr erheitert,
deinen Vater.“ Und kaum hörbar: „Meinen Adam.“
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