Heute vor 200 Jahren – 1815

Vorstellbar ist die Zeit vor 200 Jahren kaum, wenngleich sie gar nicht so weit zurückliegt. Doch das 19. Jahrhundert ist für unser Verständnis eine Historie, die wir nur noch aus Dokumenten kennen. Zeitzeugen sucht man vergebens. Schade eigentlich.
Die Jahre um 1814 waren noch geprägt von der Ära, die Napoleon Bonaparte (1769-1821) beherrschte. Allerdings hatte er als Kaiser abdanken müssen und im Mai 1814 traf er auf Elba ein, der Insel im Mittelmeer, auf die er verbannt worden war.
Napoleons hatte zwei Jahre zuvor ein Desaster mit seinem Russlandfeldzug erlebt, im Jahr 1813 hatte er die Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig hinnehmen müssen, worauf sich die Rheinbundstaaten aus der Gefolgschaft Napoleons lösten. Die Unterstützung im eigenen Land ließ nach und es wurde für ihn immer schwerer, Soldaten zu rekrutieren. Von Spanien her war Wellington (1769-1852) in Richtung französische Grenze auf dem Vormarsch. Napoleon konnte sich dennoch noch einmal als brillanter Feldherr beweisen, als es ihm gelang, durch
raffiniertes und temporeiches Manövrieren, die zahlenmäßig überlegenen, aber getrennt marschierenden Feinde mehrfach zu besiegen. Er fühlte sich seiner Sache derart sicher, dass er auf dem Kongress von Châtillon ein weiteres Friedensangebot ablehnte. Das wurde ihm zum Verhängnis. Es stellte sich bald heraus, dass er gegen die zahlenmäßige Übermacht nichts ausrichten konnte. Die Alliierten nahmen Paris ein. Kaiser Napoleon hatte keine Unterstützung mehr von seiner Armee, auch selbst enge Getreue ließen ihn im Stich. Im April 1814 wurde der Kaiser vom Senat abgesetzt. Wenige Tage später dankte Napoleon zu Gunsten seines Sohnes ab, womit die Alliierten keineswegs einverstanden waren. Sie wollten, dass Napoleon eine bedingungslose Abdankung unterschrieb. Der Kaiser hatte keine Wahl, er unterschrieb. Die Mittelmeerinsel wurde ihm als Wohnsitz angewiesen. Der Kaiser – sein Titel wurde ihm belassen – ging in die Verbannung. Auf Elba war er der Herrscher über einen Staat mit gerade einmal 10.000 Einwohnern und einer Armee von 1.000 Mann. Das war für den einstigen Herrscher über Europa keine echte Herausforderung, wenngleich er dort mit einer umfangreichen Reformtätigkeit begonnen hatte. Über alles, was derweil in Frankreich geschah, war Napoleon gut informiert. Seine Agenten erstatteten ihm ausführlich Bericht und die Tatsache, dass nach der Restauration unter Ludwig XVIII. (1755-1824) in Frankreich, speziell in Paris eine weit verbreitete Unzufriedenheit herrschte, ermutigte Napoleon, die Insel zu verlassen. Das tat er am 1. März 1815. Die Soldaten, die ihn hätten aufhalten sollen, liefen zu ihm über und als der Kaiser in Paris ankam, war seine Armee unterwegs merklich angewachsen. Der König floh aus den Tuilerien. Es schien, als hätte Napoleon die Herrschaft wieder in der Hand.
Nun hatte inzwischen der „Wiener Kongress“ eine dauerhafte europäische Nachkriegsordnung beschlossen. Alle am Krieg beteiligten Staaten waren zu dem Kongress geladen gewesen. Er hatte im September 1814 begonnen, zog sich bis zum Sommer 1815 hin und legte zahlreiche europäische Grenzen neu fest. Neue Staaten entstanden. Die Leitung des „Wiener Kongresses“ hatte der österreichische Außenminister Fürst von Metternich, eine der herausragenden Persönlichkeiten im politischen Geschehen jener Zeit.
Die Ereignisse in Frankreich nach der Rückkehr Napoleons schreckten die die Großmächte Russland, das Vereinigte Königreich Großbritannien, Österreich und Preußen auf. Sie fassten Ende März, als der Kaiser schon in Paris eingetroffen war, den Beschluss, ihre Allianz von 1814 zu erneuern und militärisch einzugreifen.
Napoleons „hundert Tage“ waren gezählt. In der Schlacht von Waterloo, die im Juni 1815 stattfand, wurde der Kaiser der Franzosen von Wellington und durch das Eingreifen der Preußen endgültig geschlagen. Er kehrte nach Paris zurück, trat zurück und wurde auf Beschluss der Alliierten in den Südatlantik, nach St. Helena verbannt. Dort verbrachte er den Rest seines Lebens unter Aufsicht und strenger Bewachung, schrieb seine Memoiren und starb 1821.
Das Leben außerhalb Frankreichs ging trotz Napoleon, der zweifelsohne die Geschehnisse des Jahres 1814 stark beeinflusst hatte, weiter.
In Wien gab es eine historisch bedeutende Premiere im Theater am Kärntnertor. Die Oper „Fidelio“, die Ludwig van Beethoven geschrieben hatte, erlebte dort ihre Uraufführung. Zwei Uraufführungen von „Fidelio“ hatte es schon gegeben. Die erste Fassung kam 1805 auf die Bühne, die zweite Fassung ein Jahr später. In jenem Jahr 1814 erlebte das Publikum die dritte, die endgültige Fassung von Beethovens einziger Oper. Die „Befreiungsoper“, die zu ihrer Zeit schon auf zahlreichen Bühnen große Erfolge feierte, ist auch heute noch eine „Muss“ für jedes Opernhaus. Während „Fidelio“ anfangs noch mit zögerlichen Reaktionen aufgenommen worden war, kannte das Publikum bei jener endgültigen Fassung von 1814 kein Halten mehr in seinem
Jubel. Die deutsche Sopranistin Wilhelmine Schröder-Devrient, die später die Partie der Leonore übernahm, sorgte für eine rasante Verbreitung der Oper.
Berlin hatte im Jahr 1814 zwar noch nicht die enorme Anziehungskraft, die es in den so genannten „Goldenen Zwanzigern“ erlangte, aber es tat sich viel. Zudem gab es eine enge Verbindung zwischen Preußen und Russland, die wenige Jahre später durch die Heirat der aus Berlin gebürtigen Prinzessin Charlotte mit dem russischen Großfürsten Nikolaus noch enger wurde. Dieser übernahm 1825 den Zarenthron, wurde Nikolaus I. und die Berliner Prinzessin wurde Zarin.
Es tat sich noch mehr in Berlin und einiges davon ist in jedem Fall eine Erwähnung wert. Beispielsweise hatte gleich zu Beginn des Jahres der aus Mecklenburg stammende Unternehmer, Politiker und Apotheker Johann Daniel Riedel (1786-1843) die Schweizer Apotheke „Zum Schwarzen Adler“ in der Friedrichstraße übernommen. Er erweiterte sie, richtete ein größeres Labor ein und legte mit der Produktion von Drogen und Chemikalien damals den Grundstein für die chemische Industrie, die sich später aus den pharmazeutischen Produkten der „Riedel’schen Drogengroßhandlung“ entwickelte. Einer seiner Enkel errichtete zum Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin-Treptow die „Riedelsche Fabrik“, in der chemische Grundstoffe und später auch Pharmaka produziert wurden.
Künstler aller Couleur verkehrten in Berlin, ebenso Philosophen. Einer von ihnen war Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), der zu den wichtigsten Vertretern des Deutschen Idealismus zählt. Er starb 1814 in Berlin. Seine letzte Ruhestätte wurde der Dorotheenstädtische Friedhof in der Chausseestraße, im heutigen Berlin-Mitte.
Ebenfalls zu Beginn des Jahres erlebte das Berliner Theaterpublikum auf der Bühne des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt die letzte Vorstellung des Schauspielers, Schauspieldichters und Schauspieldirektors August Wilhelm Iffland. Im selben Jahr, am 22. September 1814, starb er und wurde im heutigen Berlin-Kreuzberg beigesetzt. Seine Grabstätte ist ein Ehrengrab des Landes Berlin. Für Nachruhm hatte der große Mime gesorgt durch das – in jener Zeit übliche – Verschenken von Ringen an Freunde in Anlehnung an die Ringparabel von Lessing. Heute gilt der Iffland-Ring als die höchste Ehrung, die einem Schauspieler zuteil werden kann. Begonnen hatte die testamentarische Weitergabe des Ringes mit dem Bild Ifflands bei Ludwig Devrient (1784-1832). Der letzte derzeitige Träger ist seit 1996 Bruno Ganz.
Auch architektonisch war Berlin zu einer sehr ansehnlichen Stadt herangereift. Berühmte Architekten und Bildhauer hatten ihre Spuren hinterlassen. Im Juni 1814 wurde die in Paris neu zusammengesetzte Quadriga wieder auf das Brandenburger Tor gewunden und aufgestellt. Sie war nach der für Preußen verlorenen Schlacht bei Jena und Auerstedt gegen Napoleon auf dessen Weisung nach Paris verbracht worden. Sie sollte mit anderer Beutekunst ausgestellt werden. Nachdem Napoleon besiegt worden war, fanden Blüchers Truppen die Quadriga in Paris, sie war noch in Kisten verpackt. Sie wurde nach Berlin zurückgebracht, restauriert, von Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) im Sinne des Zeitgeschmacks verändert und wieder auf das Brandenburger gesetzt. Die Lorbeerkranztrophäe der Wagenlenkerin hatte Schinkel durch ein Eisernes Kreuz, das von Eichenlaub umkränzt war und vom preußischen Königsadler gekrönt wurde, ersetzt. Er hatte die Friedensbringerin in die Siegesgöttin Viktoria verwandelt. Nun konnten die Berliner die Rückkehr der Plastik und den Sieg über Napoleon entsprechend feiern. Der Quadriga gaben sie ihren eigenen Namen – Retourkutsche. Als im August 1814 Friedrich
Wilhelm III. (1770-1840) mit den preußischen Truppen nach dem Sieg über Napoleon durch das Brandenburger Tor einzog, wurde die Quadriga noch einmal enthüllt. Im Lustgarten fand eine große Dankesfeier statt und der Platz vor dem Brandenburger Tor wurde im September in „Pariser Platz“ umbenannt. So hatte es eine allerhöchste Kabinettsorder verfügt. Im Oktober wurde dann noch ein großes Schauturnen in der Berliner Hasenheide veranstaltet, um den Jahrestag des Sieges über Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig zu feiern. Dieses Schauturnen ging als praktisch erstes deutsches Turnfest in die Geschichte ein.
Während des ganzen Jahres tobte noch der Britisch-Amerikanische Krieg, der erst im Folgejahr durch den „Frieden von Gent“ ein Ende fand. Der war aber so weit entfernt, dass er hinter dem Ende der Napoleonischen Ära verblasste, zumal die Nachrichtenübermittlung noch keine direkte Anteilnahme ermöglichte.
Die reichte indes soweit, dass die Wissenschaft davon Kenntnis nehmen konnte, dass Joseph von Fraunhofer ein erstes Verzeichnis von 567 Absorptionslinien im Sonnenspektrum fertig gestellt hatte – die Fraunhoferlinien, als die sie in die Wissenschaftsgeschichte eingingen.
Nachdem das Jahr 1814 für Iffland und Fichte das letzte gewesen war, sei noch ein zuversichtliches Ereignis erwähnt. Es würde zwar noch einige Zeit dauern, bis das erste „Nesquick“ in den Handel kommen sollte, aber immerhin war der Schweizer Unternehmer deutscher Herkunft, der Gründer des heute weltweit größten Nahrungsmittelkonzerns – Henri Nestlé – am 10. August 1814 geboren worden. Da konnte man doch der Zukunft heiter entgegenblicken.
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