Geschichte der Aleviten
Die fast ausschließlich aus der Türkei stammenden
Aleviten („Alī-Verehrer“, türk. alevī) stellen nach den
Sunniten die zweitgrößte Gruppe der in Deutschland
lebenden Muslime. Als anerkannte Religionsgemeinschaft
sind sie in bundesweiten Vereinsheimen über den
Dachverband „Alevitische Gemeinde Deutschland“ (AABF)
sehr gut organisiert. Trotz ihrer großen Anzahl und
ihrer guten Organisation ist über diese
Glaubensgemeinschaft recht wenig bekannt.
Die Entstehung der Alevitentums
Die Ursprünge gehen auf Hacı Bektaş Veli (gest. ca.
1295) zurück, der als Gründer und Heiliger des
anatolischen Alevitentums verehrt wird. Ganz von der
islamischen Mystik beeinflusst begann Hacı Bektaş Veli
seine liberalen und vom Humanismus geprägten Lehren zu
systematisieren. In seinem Buch „Makālāt“ hielt er das
Wertesystem „Vier Tore, vierzig Regeln“ fest, das
gleichermaßen religiöse wie moralische Vorschriften
beinhaltet. Für die mündliche Verbreitung sorgten
vornehmlich Wanderderwische.
Die Glaubensvorstellung
Die Ursprünge der alevitischen Glaubensvorstellung
liegen in der altislamischen Mystik, aber
auch in den
altasiatischen Bräuchen und der frühanatolischen
Kultur. Wie in der islamischen Mystik üblich, werden
auch im Alevitentum Gott und Mensch als Einheit
verstanden und die Gottesliebe in den Vordergrund
gestellt. Liebe, Vernunft und Toleranz sind die Säulen
ihres Glaubens, die vom Ausspruch Hacı Bektaş Velis
„Schütze die Reinheit deiner Zunge, deiner Hände und
deiner Lende“ (gemeint: Sprich Gutes, tue Gutes, zügle
deine Triebe) gestützt werden. Ziel jedes Gläubigen ist
die Vervollkommnung, die allein über die Einhaltung des
Wertesystems „Vier Tore, vierzig Regeln“ zu erreichen
ist.
Sind die Aleviten Muslime oder nicht?
Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, da
die Ansichten darüber selbst unter Aleviten erheblich
auseinander gehen.
Wie alle Muslime glauben auch die Aleviten an einen
einzigen Gott (Allāh/Hak) und seinen Propheten Muḥammad.
Als Anhänger der Zwölfer-Schia und als große Verehrer
Alīs, dem Schwiegersohn und Vetter des Propheten, werden
die Aleviten meist dem schiitischen Islam zugeordnet,
was ebenfalls kontrovers diskutiert wird.
Neben diversen Gemeinsamkeiten weist das Alevitentum
nämlich deutliche Unterschiede zu den anderen
islamischen Glaubensgemeinschaften auf. So gehören weder
die Fünf-Säulen-des-Islam (Glaubensbekenntnis, Gebet,
Almosen, Fasten, Pilgerreise) noch die Scharia
(islamisches Recht) zum religiösen Dogma der Aleviten.
Zwar sprechen auch
die Aleviten ihr Glaubensbekenntnis (meist in Kurzform:
„Ya Allāh, ya Muḥammad, ya Alī“), geben Almosen, fasten
und beten, doch sind sie dabei weder an die im Islam
vorgeschriebenen Rituale noch an bestimmte Zeiten oder
Orte gebunden.
Das Gebet
Auch das Gebet findet bei den Aleviten weder zu einer
bestimmten Zeit noch an einem bestimmten Ort statt und
kann jederzeit verrichtet werden. Zum gemeinsamen Gebet
treffen sich die Aleviten bei der „Versammlung der
Gläubigen (türk. āyin-i cem)“, die nicht in einer
Moschee, sondern einem Versammlungshaus (cemevi)
abgehalten wird. Diese Zusammenkunft wird vom Oberhaupt
der Gemeinde, dem Dede („Großvater“), geleitet und
Männer sowie Frauen nehmen – wie im Alivitentum üblich –
gemeinsam daran teil.
Neben dem Gebet sind sowohl der Gesang, der Semah
(ritueller Tanz) als auch die Rezitation alevitischer
Gedichte wichtiger Bestandteil ihrer Zeremonie.
Der Status der Aleviten innerhalb der islamischen
Glaubensgemeinschaften
Innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaften haben
die Aleviten mit vielen Vorurteilen
und Vorbehalten zu kämpfen. Ihre aus sunnitischer Sicht
übertriebenen Alī-Verehrung, die rituellen Bräuche sowie
ihre liberale Auffassung, aber insbesondere die
Ablehnung der Fünf-Säulen-des-Islam sowie der Scharia
bringen viel Kritik und Anfeindungen ein.
Nicht ohne Grund haben die Aleviten ihre Lehren und
Praktiken zum Schutz der Gemeinschaft viele Jahrhunderte
lang geheim gehalten. Schon unter den Osmanen wurden sie
als Häretiker verfolgt und es kam immer wieder zu
blutigen Aufständen. Ihre Situation verbesserte sich
erst nach der Gründung der Türkei durch Kemal Atatürk,
doch wurden die Aleviten auch in den folgenden
Jahrzehnten immer wieder Opfer von Massakern.
Noch heute werden die Aleviten in der Türkei nicht als
Religionsgemeinschaft anerkannt und sind in den letzten
Jahren einer zunehmenden Diskriminierung seitens der
sunnitischen Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt.