von Johanna Stephan
Woher nur kam dieses Geräusch?
Was war das?
Die Wege im Stadtpark waren voller Laub. Es war Herbst
geworden.
Bei jedem Schritt raschelte es und die trockenen Blätter
flogen auf, wenn Jakob einen Fuß vor den anderen setzte.
Er sog den satten Duft von Erde ein.
Durch die kahlen Bäume hindurch konnte er den Himmel
sehen. Ein paar Wolken zogen dahin, schoben sich ab und
zu vor die Sonne, die aber immer wieder hervorlugte und
deren Strahlen noch die Erinnerung an den warmen Sommer
in sich trugen.
Jakob liebte diesen goldenen Oktober.
Um diese Zeit, es war später Nachmittag, spazierten
nicht viele Menschen durch den Park. Die Wenigen
hasteten nur so durch, der Park war eine Abkürzung.
Er verband die so genannte untere Stadt mit der
Hochstadt, deren Name durch die hügelige Lage entstanden
war und deren Straßen fast alle ziemlich steil
anstiegen.
Jakob fand, dass es da oben beschaulicher war. Auch
waren die Häuser älter als unten. Im Krieg war oben fast
nichts kaputt gegangen. In der unteren Stadt hingegen
war vieles neu. Eigentlich war ja die Hochstadt nur ein
kleiner Stadtteil, ein Kiez eben, den die Unteren aber
mieden. Warum, das hätte sicher keiner erklären können.
Es war einfach so.
Im Grunde war oben nicht viel los. Die größeren
Veranstaltungen fanden unten statt.
Da gab es zum Beispiel das Theater und die zwei Museen.
Eines beherbergte wechselnde Ausstellungen moderner
Maler und manchmal waren auch alte Meister ausgestellt,
wenn das Museum den nötigen Zuschuss für so eine
Ausstellung bekam. Das andere, etwas kleinere Museum
enthielt Mineralien, akribisch zusammengetragene
Kostbarkeiten.
Und es gab den Bahnhof.
Von dort konnte man mit dem Bus oder der Straßenbahn
weiterfahren, allerdings nur in der unteren Stadt. Sie
hatte ein gut ausgebautes Verkehrsnetz, das aber nicht
bis nach oben reichte.
Am westlichen Eingang vom Stadtpark endete die Buslinie
und auch die Straßenbahn fuhr nicht weiter. Wenn man
ankam und in die Hochstadt wollte, musste man sich ein
Taxi nehmen oder laufen. Das war ziemlich beschwerlich,
wenn man Gepäck hatte.
Nun war die Hochstadt zwar keine touristische
Attraktion, aber hin und wieder kamen Gäste, die in
diesem kleinen verwunschenen Kiez Unterschlupf suchten.
Das Wirtshaushotel war allerdings nie ganz ausgebucht.
Es war gerade so, als hätte man die obere Stadt
vergessen. Vielleicht wollte man sie aber auch nur nicht
wecken.
Von je her war es oben friedvoller als unten. Man spürte
kaum etwas von der alltäglichen Hektik. Die Geschehnisse
gingen irgendwie an der Hochstadt vorbei, gerade so, als
sei die Zeit dort stehen geblieben.
Die Bewohner beklagten sich nicht. Ihnen war es ganz
recht so. Die meisten lebten seit Jahrzehnten dort und
waren es auch nicht anders gewohnt. Manche kannten die
untere Stadt kaum, was aber nicht an den fehlenden
Verkehrsverbindungen lag.
Es gab Wenige, die oben wohnten und unten arbeiteten.
Die meisten Leute waren schon pensioniert und die Jungen
hielt es dort nicht lange. Sie zogen runter oder ganz
weg. Über der oberen Stadt lag etwas Seltsames.
Jakob war ziellos durch den Park gegangen, aber er
merkte bald, wie der Weg ein wenig anstieg. Es war also
nicht mehr weit bis zur Hochstadt.
Die Sonne war nun endgültig hinter den Wolken
verschwunden. Bald würde es dunkel werden.
Plötzlich schien es ihm, als sei er allein im Park. Es
war so still. Kein Geräusch war mehr zu hören, nur das
Laub raschelte bei jedem Schritt. Aber es flog nicht
mehr hoch. Es raschelte nur. Er schaute zum Himmel. Die
Wolken bewegten sich nicht. Ihm war unheimlich zumute.
Kein Lüftchen ging.
Der Wind war stehen geblieben.
Aus der Ferne hörte er Glockenläuten. Seltsam.
Seit Jahren waren die Glocken der Lukaskirche, der
größten Kirche in der unteren Stadt, nicht mehr zu hören
gewesen. Sie war im Krieg fast bis auf die Grundmauern
ausgebrannt. In den Jahren danach hatte man sie wieder
aufgebaut. Der Glockenturm allerdings war wegen der
schlechten finanziellen Situation der Stadt erst viele
Jahre nach dem Krieg fertig geworden.
Aber die Glocken wurden nicht benutzt. Eine
Bürgerinitiative hatte gegen den ruhestörenden Lärm
protestiert.
Die Alten erzählten manchmal davon, wie wunderbar und
weithin hörbar das Läuten früher geklungen hatte.
Jakob hörte es jetzt ganz deutlich.
Er lief weiter, immer schneller. Der Weg wurde steiler.
In der oberen Stadt gab es keine Kirche, nur das
Pfarrhaus. Aber je weiter er lief, desto näher hörte er
die Glocken. Woher kam ihr Läuten? Ihn fröstelte.
Die obere Stadt war nun ganz nah.
Er konnte schon das Ende vom Park sehen. Dort begann die
Parkallee, eine kleine Straße, deren eine Seite von
Bäumen gesäumt war.
Früher hatten auf der anderen Seite auch Bäume
gestanden, aber die waren gefällt worden, als man die
Kanalisation erneuert hatte. Wenn man die Parkallee
durchläuft und nach rechts weitergeht in die
Grabengasse, dann ist man schon mittendrin in der
Hochstadt.
Dort ist das Postamt, eine Schuhmacherei, ein
Antiquariat, ein Bäckerladen, und auch ein unscheinbares
Café, das Jakob von früheren Spaziergängen kannte.
Dort wollte er sich aufwärmen, eine heiße Schokolade
trinken und vielleicht fand er da auch eine Erklärung
für das Glockenläuten.
Er nahm sich vor, die Wirtin zu fragen.
In der Parkallee fühlte sich Jakob schon wieder
sicherer.
Die Leute, denen er begegnete, wirkten ganz ruhig. Außer
ihm schien niemand etwas zu hören. Aber es war, als läge
eine eigentümliche Stimmung über allem.
Er war froh, als er die Grabengasse erreicht hatte.
Das Café war nicht sehr voll und er setzte sich nah des
Fensters an einen kleinen Tisch, legte seine Jacke über
den Stuhl neben sich und schaute sich um.
Das Läuten hatte aufgehört.
Am Stammtisch, direkt vor der Theke saßen drei alte
Männer und tranken Wein. Einer von ihnen rauchte Pfeife
und ein süßliches Vanillearoma zog durch den Raum. Am
Tisch daneben saß eine ältere Frau und ihr zur Seite
eine jüngere. Sie war etwa in Jakobs Alter, so um die
dreißig. Aus der Ähnlichkeit schloss er, dass es Mutter
und Tochter waren. Sie hatten fröhliche Gesichter und
die Ältere der beiden redete unaufhörlich.
Neben Jakob, an einem großen Ecktisch, saß ein Mann
allein und las Zeitung.
„Bitt’ schön, junger Mann, was zum Aufwärmen?“
Die Worte der Wirtin rissen ihn aus seinen Gedanken.
Sie schaute ihn freundlich an, wohl etwas amüsiert über
seine Verblüffung.
„Der Herbst ist schon ein bissel kühl, stimmt’ s?“
Es klang fast wie eine Entschuldigung.
„Was waren denn das für Glocken, die ich auf dem Weg
hierher gehört habe?“, fragte Jakob ganz unumwunden.
„Glocken? Hm, tja, die Glocken…“
Sie drehte sich um, ging zum Tresen und begann, seine
Schokolade zu zubereiten, die er noch gar nicht bestellt
hatte.
In ihrem Tonfall hatte etwas Merkwürdiges gelegen und
Jakob hätte nicht genau sagen können, was es war. Aber
es war keine Verwunderung. Er wollte unbedingt mehr
erfahren. Vielleicht hatte die Wirtin die Glocken ja
auch gehört.
„So, bitte schön, die Schokolade. Sie läuten nicht mehr
oft. Wenige hören sie.“
Sie stellte die Tasse vor ihm ab und ging.
Dann brachte sie den drei Männern am Stammtisch Wein,
redete ein paar Worte mit ihnen und alle drei drehten
sich mit ernsten Gesichtern nach Jakob um. Die Wirtin
indes war in die Küche gegangen.
Die Hochstadt barg also ein Geheimnis. Und er, Jakob,
gehörte zu den Wenigen. Er hatte die Glocken gehört.
Die drei Männer hatten ihr Gespräch wieder aufgenommen.
Ab und zu schauten sie rüber und er hatte den Eindruck,
dass sie ihn mit besonderer Freundlichkeit musterten.
Jakob löffelte die Sahne von der Schokolade und steckte
sich eine Zigarette an. Seine Gedanken drehten sich um
das Glockenläuten. Offenbar wussten die drei Männer am
Stammtisch etwas.
„Vielleicht sollte ich mich zu ihnen setzen“, dachte er.
Er tat es nicht.
Der Mann am Ecktisch faltete seine Zeitung zusammen. Er
legte ein paar Münzen auf den Tisch und stand auf.
„Mein Großvater hat sie auch mal gehört. Er sagte, es
käme von weit her.“
Jakob schaute verwundert auf, wollte etwas sagen. Aber
der Mann war schon an der Tür.
Die Wirtin kam, steckte das Geld vom Nebentisch in ein
großes Portemonnaie und wandte sich wieder der Theke zu.
Nach ein paar Schritten hielt sie kurz inne und kam zu
Jakob zurück.
„Ich habe die Glocken nie gehört, aber die Alten sagen,
wer sie hört, der kann mit dem Wind reden. Wenn sie
läuten, bleibt der Wind stehen.“
Sie schaute ihn freundlich an und ging.
Die Stille. Jakob erinnerte sich an die Stille im Park.
Plötzlich stand der Alte mit der Pfeife auf. Er kam zu
Jakob an den Tisch und setzte sich ihm gegenüber.
„Warte nicht so lange. Geh hinaus und rede mit dem Wind.
Es geschieht selten heutzutage, dass jemand die Glocken
hört.“
Der Alte nickte ihm aufmunternd zu. Jakob starrte ihn
an.
Wie im Traum griff er nach seiner Jacke und ging hinaus,
geradewegs zurück zum Park.
Da war es wieder, das Läuten.
Als er ein paar Schritte auf dem belaubten Weg gegangen
war, hörte er ein Flüstern, eine Stimme. Sie klang hohl
und wie aus weiter, weiter Ferne.
Er drehte sich um.
Niemand war zu sehen. Nur ein Windhauch spielte in
seinem Gesicht, ganz sacht. Jakob fühlte, wie er
Gänsehaut bekam und leise, fast flüsternd brachte er die
Worte hervor: „Ist jemand hier?“
Es blieb still.
Immer noch hörte er das Flüstern, konnte die Worte aber
nicht verstehen. Plötzlich spürte er, wie der Wind
stärker wurde und mit einem Mal wurde auch das Flüstern
deutlich.
„Es hat seit langer Zeit keiner mit mir gesprochen. Die
Menschen haben verlernt zu hören. Wenn ich komme,
schlagen sie ihre Kragen hoch, um sich zu schützen. Wer
bist Du?“
„Ähm, ich bin Jakob, Jakob Peters aus der unteren
Stadt.“
„Was tust Du hier?“
„Ich gehe spazieren – war in der Hochstadt. Es ist dort
anders als unten. Ruhiger. Die Leute sind – sie sind –
sensibler, nicht so hektisch.“
„Du könntest dort wohnen, warum tust Du’s nicht?“
„Hm, noch nie ist jemand von unten in die Hochstadt
gezogen.“
Fast klang es ein wenig abfällig.
„Suche das Geheimnis. Du bist klug. Du wirst einen
Schatz finden.“
Eine Bö fegte über den Weg.
Das Laub stob auseinander und noch einmal hörte Jakob
das Flüstern.
„Suche das Geheimnis.“
„Aber...“
„Du wirst einen Schatz finden.“
Der Wind brauste durch den Park und die wenigen Leute,
die unterwegs waren, schlugen ihre Kragen hoch.
Er stand wie benommen.
Noch eine Weile lauschte er dem Wind hinterher. Das
Glockenläuten war verstummt.
Der Wind hatte es mitgenommen.
Langsam ging Jakob zurück in die obere Stadt. Alles kam
ihm mit einem Mal seltsam vertraut vor. In einigen
Fenstern brannte Licht und anheimelnde Gemütlichkeit lag
über dem Kiez.
Als er das Café wieder betrat, sahen ihn alle mit einem
freundlichen Lächeln an. Keiner sagte ein Wort. Er ging
zum Stammtisch.
„Darf ich mich setzen?“
„Komm nur“, sagte der Alte mit der Pfeife.
Die Wirtin brachte ein Viertel Rotwein. Jakob
entschuldigte sich, dass er vergessen hatte, seine
Schokolade zu bezahlen.
„Ich wusste, dass Du wieder kommst.“
Ihr sanfter Blick hatte etwas Beruhigendes.
Sie hoben die Gläser und tranken sich zu. Er fühlte sich
geborgen.
„Es wird nicht schwer sein, eine Wohnung hier zu
finden“, sagte einer der Männer. „Geh zum Antiquariat
und häng dort einen Zettel aus. Du wirst sehen, es geht
schnell.“
Jakob nickte. Er wusste nichts zu erwidern.
Sie saßen noch lange beisammen und redeten über dieses
und jenes – nur nicht über den Wind.
Als Jakob seine Wohnung in der unteren Stadt betrat, war
es fast Mitternacht. Er ging zu Bett und schlief
traumlos.
Am nächsten Morgen beschloss er, gleich nach dem
Unterricht zum Antiquariat zu gehen und dort einen
Zettel auszuhängen. Der gestrige Tag hatte einen starken
Eindruck in ihm hinterlassen. Auch kam ihm seine Wohnung
jetzt merkwürdig fremd vor.
Am Nachmittag gegen vier Uhr machte er sich auf den Weg
nach oben. Er ging wieder durch den Park, es war windig.
Unwillkürlich musste er lächeln, schien es ihm doch, als
begleite der Wind sein Tun.
Das Antiquariat machte einen sehr verlassenen Eindruck.
Das einzige Schaufenster war voller Bücher, deren
Preisschilder kaum mehr lesbar waren.
Jakob betrat den Laden und ein Mann kam auf ihn zu, der
ihn freundlich begrüßte. Er trug eine braune Hornbrille
und seine Haare, die in der Mitte gescheitelt waren,
reichten gleichmäßig bis fast auf die Schultern. Mit
beiden Händen strich er die Haare hinter die Ohren, fuhr
mit dem Zeigefinger über seinen grauen Schnurrbart und
schaute seinen Besucher abwartend an. Da der nichts
sagte, begann der Alte – Jakob schätze ihn auf Mitte
fünfzig – ihm verschiedene Bücher zu empfehlen, seine
Raritäten, wie er sie nannte.
Plötzlich stockte er und sagte: „Hier an der kleinen
Tafel können Sie ihren Zettel aufhängen. Haben Sie eine
Telefonnummer angegeben? Ja? Es wird sicher nicht lange
dauern.“
Jakob zog seinen Zettel aus der Tasche und befestigte
ihn mit einer Reißzwecke an der Tafel, an der schon
verschiedene Inserate hingen. Stellengesuche,
Kontaktanzeigen Verkaufsangebote. Sein Wohnungsgesuch
war das Einzige dieser Art.
Der Mann nickte zufrieden und bat ihn, Platz zu nehmen.
Neben dem hinteren Regal stand ein Tischchen mit zwei
Stühlen. Der Tisch und die beiden Stühle waren voller
Bücher. Jakob schaute ihn etwas verlegen an.
„Oh, ich habe die Bücher noch nicht in den Katalog
gearbeitet. Deshalb liegen sie hier. Verzeihen Sie meine
Unachtsamkeit.“
Er stapelte die Bücher von den Stühlen auf den Tisch,
vorsichtig darauf bedacht, nicht so viel Staub
aufzuwirbeln. Der Tisch sah nun aus, als bräche er unter
der Last gleich zusammen. Sie setzten sich.
„Es ist schön, dass Sie hier hoch ziehen wollen. Sie
werden sich wohl fühlen.“
„Woher wissen Sie das?“
Der Mann hatte den Zettel nicht gelesen und konnte ihn
auf die Entfernung unmöglich sehen.
„Ich habe Sie gestern gesehen, als sie gegenüber ins
Café gegangen sind. Und ich habe die Glocken gehört.“
„Dann hätten Sie also auch mit dem Wind reden können?“
fragte Jakob mit maßlosem Erstaunen.
„Ja, ja, aber warum hätte ich das tun sollen? Ich kenne
das Geheimnis.“
Er schaute Jakob durchdringend an.
„Und Sie werden es auch herausfinden. Sie sind klug.“
Jakob verstand, dass der Alte ihm das Geheimnis nicht
offenbaren würde.
„Kommen Sie nur recht oft vorbei. Wir können ein wenig
plaudern.“
Als sich Jakob verabschiedete, reichte der Mann ihm
seine knochige Hand hin, die ebenso staubig war wie die
Bücher, die er noch nicht in den Katalog gearbeitet
hatte.
„Ich heiße Arthur Jörgen.“
„Jakob Peters.“
Er ging rüber ins Café. Die Szenerie glich der des
Vortages. Am Ecktisch saß der Mann mit der Zeitung. Als
Jakob rein kam blickte er auf und nickte ihm zu.
Die Wirtin begrüßte ihn mit einem vertrauten Lächeln,
wie einen guten Bekannten.
„Die Schokolade ist gleich fertig.“
Er setzte sich wieder nahe des Fensters an den kleinen
Tisch, legte seine Jacke auf den Stuhl neben sich,
zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zufrieden
zurück. Sein Leben hatte sich mit einem Schlag
verändert. Noch konnte er es nicht in Worte fassen, aber
er spürte es.
Aus der Jukebox klang: „Blowing in the wind.“
Die Wirtin brachte die Schokolade.
Die ältere Frau zeigte ihrer Tochter ein paar Fotos. Die
drei Alten spielten Karten, lachten und nickten zu ihm
rüber. Jakob nickte zurück, blieb aber sitzen und hing
seinen Gedanken nach. Warum war er früher nie auf den
Gedanken gekommen, in die Hochstadt zu ziehen?
Er lauschte der Musik und schlürfte seine Schokolade.
Eine junge Frau betrat das Café. Sie schaute sich kurz
um und ging dann zu Jakobs Tisch.
„Sie können meine Wohnung haben. Ich gehe weg von hier.“
Er bot ihr einen Stuhl an und sie setzte sich.
„Kommen Sie mit. Sie können sie gleich ansehen. Es ist
nicht weit. Ich wohne in der Mühlenstraße, da wo der
alte Brunnen steht.“
„Ja, möchten Sie vielleicht...?“
„Nein, vielen Dank.“ Sie lächelte und war aufgestanden.
Beim Hinausgehen nickte sie den drei Männern am
Stammtisch zu. Jakob nahm seine Jacke und ging ihr nach.
Es wehte ein kühler Wind. Die junge Frau schlug ihren
Mantelkragen hoch. Er folgte ihren schnellen Schritten.
„Woher wissen Sie denn, ...?“
„Der Antiquar ist mein Vater.“
Nun musste auch Jakob lächeln. Es war ein kurzer, aber
stetig ansteigender Weg bis zum Brunnen.
„Hier ist es.“
Die junge Frau zog einen Schlüssel mit einem langen
bunten Band aus der Manteltasche.
Sie nahm zwei Stufen mit einem Mal und blieb im zweiten
Stock stehen. Neben der Wohnungstür war ein altes
Messingschild angebracht. Den Namen konnte man nicht
mehr lesen.
„Bitte, kommen Sie rein und schauen Sie sich um.“
Sie schloss die Tür auf und Jakob betrat nach ihr den
Korridor.
„Warum wollen Sie denn weg von hier?“, fragte er,
während er sich umsah.
„Ach, wissen Sie, es zieht mich in die Stadt. Hier ist
nichts los. Nicht mal die Straßenbahn fährt hier hoch.“
Sie lachte, und es schwang ein bisschen Verlegenheit in
ihren Worten mit. Dann wurde sie ernst.
„Man muss hingehen, wo einen der Wind hinweht. Verstehen
Sie?“
„Ja.“
Die Wohnung hatte zwei Zimmer. Vom Korridor aus gelangte
man in das größere der beiden Zimmer und konnte dann
durch eine Flügeltür in das kleinere gehen.
Er schaute aus dem Fenster. Es gab kein Gegenüber. Man
sah eine alte Kastanie, deren üppiges Geäst fast den
ganzen Brunnen überdeckte.
Die beiden Räume waren gemütlich, aber ziemlich
chaotisch, fand Jakob. Er selber liebte die Ordnung. Sie
stellte für ihn ein hohes Maß an Bequemlichkeit dar.
Seine Ordnungsliebe grenzte manchmal fast schon an
Pedanterie, was er gewöhnlich seinem
Jungfrauenaszendenten zuschob.
Er stellte sich vor, wie schön die Kastanie im Frühjahr
mit ihren weißen Blüten aussehen würde.
„Ich heiße Jennifer. Trinken Sie einen Tee mit mir?“
rief die junge Frau.
„Ja, warum nicht.“
Er ging zu ihr in die Küche.
„Kommen Sie doch rein, bitte. Setzen Sie sich.“
Sie stand am Herd, und hatte Jakob den Rücken zugewandt.
In der rechten Hand hielt sie den Teekessel und mit der
linken Hand wies sie, ohne hinzusehen, auf einen Stuhl.
Er blieb verlegen stehen. Auf dem Stuhl lagen Bücher.
„Sie hatten sicher noch keine Zeit, die Bücher in den
Katalog zu arbeiten, nicht wahr?“
Die junge Frau drehte sich um, schaute ihn verwundert an
und dann sah sie die Bücher auf dem Stuhl. Plötzlich
brach sie in schallendes Gelächter aus und sagte: „Nein,
nein, ich schreibe an einer Arbeit.“
Sie brachte die Bücher raus, kam mit einer Schale Kekse
zurück und wies noch einmal mit einladender Geste auf
den Stuhl. Jakob setzte sich.
„Er muss noch ein paar Minuten ziehen.“
Sie stellte die Kanne mit dem Tee auf den Tisch, setzte
sich ihm gegenüber und sie schauten sich an. Bestimmt
ist sie nicht älter als dreißig, dachte Jakob. Ihm fiel
die Ähnlichkeit mit ihrem Vater auf und die
feingliedrigen Finger.
„Mein Vater liebt seinen kleinen Laden. Er hat gar
keinen Katalog. Seine Bücher kennt er auch so.“
Ihre Stimme klang warmherzig. Sie seufzte.
„Viel wirft der Laden nicht ab. Aber Vater sagt immer,
er habe alles, was er brauche.“
„Und Ihre Mutter?“
„Sie ist vor ein paar Jahren gestorben. Nach ihrem Tod
hat Vater dann das Antiquariat übernommen. Ich glaube,
die Bücher trösten ihn. Er spricht nicht viel darüber.
Er liest.“
Sie goss Tee ein und schob ihm die Zuckerdose hin „Ich
trinke Tee am liebsten ohne Zucker.“, sagte sie und
blickte dann gedankenverloren in ihre Tasse.
„Die Wohnung gefällt mir. Ich würde sie nehmen.“
„Wenn Sie wollen, können Sie zum ersten Dezember
einziehen. Oben gibt es einen Speicher. Eine Truhe ist
noch dort, ein paar Schallplatten und ein alter Spiegel.
Das würde ich später abholen, wenn es Ihnen recht ist.“
Jakob nickte. Sie saßen noch eine Weile zusammen, ohne
etwas zu sagen.
„Vielen Dank für den Tee. Ich wünsche Ihnen Glück.“
Er war aufgestanden.
Jennifer sah ihn an, reichte ihm ihre Hand und es schien
Jakob, als sei eine große Vertrautheit zwischen ihnen.
Als er schon auf der Treppe war, rief sie ihm nach:
„Sagen Sie bitte der Wirtin Bescheid. Ihr gehört die
Wohnung.“
Er versprach es.
Am Brunnen unten blieb er stehen, holte eine Schachtel
Zigaretten aus der Jackentasche und versuchte, ein
Streichholz anzuzünden. Der Wind blies es immer wieder
aus. Er steckte die Schachtel weg und schaute zurück. In
den beiden Zimmern brannte Licht.
Gern hätte er Jennifer gefragt, wo sie hingehen würde.
Ende November fiel der erste Schnee. Er blieb liegen und
eine winterliche Stille breitete sich aus. Von da an
schneite es fast jeden Tag.
Jakob hatte seinen Umzug vorbereitet, seine Habe in
Kartons sortiert und sie beschriftet. Vieles, was er
nicht mehr verwenden konnte, hatte er in Plastiktüten
gestopft und die brachte er nun zum Müll.
Er war ein sehr ruhiger Hausbewohner und wenn er
mehrmals, in kurzen Abständen, drei Stockwerke hoch und
runter ging, dann war das Aufsehen erregend, zumal das
Holz der beiden letzten Stufen jedes Mal bedenklich
knarrte.
Seine Nachbarin, eine ältere, etwas kurzsichtige Dame,
die aber noch sehr gut hören konnte, obwohl sie die
siebzig längst überschritten hatte, begann, nachdem ihr
das Hin und Her ihres Nachbarn aufgefallen war, das
Klingelschild neben ihrer Tür zu putzen.
Als Jakob gerade wieder nach oben kam und freundlich
grüßte, versuchte sie, ihn in ein Gespräch zu
verwickeln.
„Oh je, dieses Jahr ist der Winter früh gekommen, nicht
wahr?“
„Stimmt, da lassen Sie Ihre Tür besser nicht so lange
offen, Frau Retzel, sonst wird’s drinnen auch kalt.“
Er sagte das in einer so entwaffnenden Freundlichkeit,
dass die alte Dame zustimmend nickte und erst als Jakob
seine eigene Wohnungstür wieder geschlossen hatte,
bemerkte sie, dass er ihr ausgewichen war.
Seufzend ging sie in ihre Wohnung zurück.
Die Vorbereitungen für den Umzug waren abgeschlossen.
Jakob wollte sich noch einen Besuch in der Hochstadt
gönnen, bevor er endgültig zu ihren Bewohnern gehören
würde.
Er bemühte sich, seine Tür leise zu schließen, um die
Aufmerksamkeit seiner Nachbarin nicht wieder zu erregen,
aber es war schon zu spät.
„Ach, Herr Peters, verreisen Sie demnächst?“
„Nein.“
„So, so. Na, ich dachte, weil..., wissen Sie..., es ist
nur...“
Er konnte nicht so hartherzig sein.
„Ich ziehe um.“
„Nach so vielen Jahren.“
Sie war fassungslos.
„Wie schade. Wo ziehen Sie denn hin?“
Mit ihrer leicht schiefen Kopfhaltung und dem
kurzsichtigen Blick tat sie ihm ein bisschen leid.
„In die Hochstadt.“
„Herr Peters, das ist aber nicht recht von Ihnen, dass
Sie mich auf den Arm nehmen.“
„Würde ich mir nie erlauben, Frau Retzel. In zwei Tagen
ziehe ich in die Hochstadt. Wirklich.“
„Ja, Du liebe Güte. In die Hochstadt. Jesses Maria, Herr
Peters! Wer hat Sie denn auf die Idee gebracht?“
“Der Wind, Frau Retzel, der Wind.”
Und lachend nahm Jakob zwei Stufen mit einem Mal.
Seine Nachbarin schloss kopfschüttelnd die Wohnungstür.
Draußen war es schon dunkel. Auf den kahlen Zweigen der
Bäume lagen frische Schneehäubchen. Der Abend war
frostig und der Himmel sternenklar. Bei jedem Schritt
knirschte es und kalter Wind wehte den losen Schnee auf.
Die kalte Luft tat Jakob gut.
Der Park lag weiß und friedvoll vor ihm und bald begann
der Weg anzusteigen. In der Parkallee war zu beiden
Seiten Schnee am Straßenrand aufgetürmt.
Er ging zur Grabengasse, vorbei am Café bis hoch zum
Brunnen in die Mühlenstraße.
Dort blieb er stehen.
Die Fenster im zweiten Stock waren dunkel.
In seiner Jackentasche fühlte er den Schlüssel. Jennifer
hatte ihm die Schlüssel mit samt ihrem bunten
Schlüsselband gegeben.
Vor einer Woche war sie weggezogen.
Sie hatten sich nur kurz für die Formalitäten im Café
getroffen und einen Tee zusammen getrunken. Jakob hatte
eine Zigarette geraucht und auf ihre Finger gestarrt.
Sie hatte sehr lange in ihrem Tee gerührt.
Als Jakob sich an diesen Moment erinnerte, fiel ihm ein,
dass sie bei ihrer ersten Begegnung den Tee ohne Zucker
getrunken hatte.
Den Gedanken, der vorsichtig aufzukeimen drohte,
verscheuchte er sofort wieder.
Sie war nicht mehr zurückgekommen.
In den Fenstern ringsum brannte Licht und auch das
Schaufenster des Antiquariats war erleuchtet. Er betrat
den Laden.
„Oh, wie schön.“
Herr Jörgen freute sich sichtlich.
„Kommen Sie, dort können wir uns hinsetzen.“
Er stellte eine kleine Espressotasse aus der Hand und
stapelte die Bücher von den beiden Stühlen auf den
Tisch.
„Ich komme einfach nicht dazu, sie in den Katalog zu
arbeiten.“
In seiner Entschuldigung schwang nicht die geringste
Verlegenheit mit.
„Ich hole uns ein Glas Wein, bin gleich wieder da.“
Jakob las unterdes die Titel der Bücher, die auf dem
Tisch lagen und bestaunte die großen Bildbände.
Der alte Jörgen kam mit zwei Gläsern und einer
halbvollen Flasche Rotwein zurück.
„Das ist Grund genug zum Anstoßen.“
Er goss die Gläser voll, stellte die Flasche neben den
Tisch, reichte ihm ein Glas und trank ihm zu. Jakob tat
es ihm nach und überlegte, welchen Grund der alte Jörgen
wohl gemeint hatte. Seinen Besuch oder seinen Umzug.
Vielleicht beides.
Der Alte griff nach einem Bildband, hielt ihn hoch und
zeigte auf das Umschlagbild.
„Die schönsten Hafenstädte der Welt“, sagte er.
„Ich habe sie alle gesehen.“
„Bin früher zur See gefahren, wissen Sie. Aber die
Abenteuer aus meinen Kinderbüchern habe ich nicht
erlebt.“
„Haben Sie deshalb die Seefahrt an den Nagel gehängt?“
„Nein, nein. Oft war ich viele Wochen weg und das wäre
meiner Ehe auf Dauer nicht sehr zuträglich gewesen. Ich
war auch kein leidenschaftlicher Seefahrer. Und als
meine Tochter geboren wurde, wollte ich sie aufwachsen
sehen, verstehen Sie?“
Der alte Jörgen strich seine grauen Haare nach hinten.
„Manchmal scheint es mir, als sei es erst gestern
gewesen.“
Er machte eine Geste, als wolle er die Gedanken an die
Vergangenheit verscheuchen. Ein heiterer Schimmer
huschte über sein sanftes, freundliches Gesicht und er
wechselte das Thema:
„Sehen Sie, es hat doch recht schnell geklappt mit Ihrer
Wohnung.“
„Oh ja, es gibt seltsame Zufälle.“
„Es sollte so sein.“
Jakob überlegte, ob er den alten Jörgen nach Jennifer
fragen sollte. Vielleicht würde der Alte aber auch
gelegentlich von selber etwas erzählen.
Er würde abwarten.
In der kleinen Wohnung war er schnell heimisch geworden.
Alles hatte seinen Platz und er genoss die Behaglichkeit
der neuen Umgebung.
Seinen täglichen Arbeitsweg durch den Park liebte er
besonders. Zweimal am Tag genoss er den Weg und die
frische Luft. Er genoss diese Spaziergänge.
Einen schöneren Arbeitsweg konnte er sich kaum
vorstellen, eine befriedigendere Arbeit wohl.
Abends, wenn er gemütlich in seinem Sessel saß, Musik
hörte und seinen Gedanken nachhing, überlegte er oft,
wie es wäre, wenn er das Gymnasium verließe.
Manchmal ging er ins Café, trank ein Viertel Rotwein und
unterhielt sich mit den Leuten.
Aber am liebsten saß er dort allein und beobachtete
ringsum die Gesichter. Immer wieder nahm er sich vor,
darüber zu schreiben. Doch wenn er endlich Feierabend
hatte, fehlte ihm die nötige Muße.
Zwar hatte ihn sein Beruf noch nicht an den Rand der
Verzweiflung gebracht wie andere Kollegen, aber eine
Berufung war die Arbeit wirklich nicht. Sie machte ihm
keinen Spaß. Auch glaubte er, seinen Schülern keinen
richtigen Unterricht vermitteln zu können in Konkurrenz
zu Computerspielen und Discotheken. Am liebsten würde er
alles aufgeben und nur noch schreiben. Aber davon würde
er nicht leben können. Als Lehrer war er abgesichert.
Ob seine Gedichte, seine Geschichten Anklang fanden, war
ungewiss.
Diese Gedanken kehrten immer wieder. Sein
Sicherheitsdenken war ausgeprägt und insgeheim
bewunderte er den alten Jörgen, der in seinem
Antiquariat saß, sehr bescheiden lebte und dennoch eine
große innere Ruhe ausstrahlte.
Jakob wohnte nun schon über ein Jahr in der Hochstadt.
Bei jedem Wetter hatte er den Park gesehen und doch
konnte er sich immer wieder auf’ s Neue an dem Zauber
der ersten Krokusse erfreuen, die schon zaghaft ihre
gelben, violetten und weißen Köpfchen aus der Erde
reckten und mit den Schneeglöckchen wetteiferten.
Er setzte sich auf eine Bank, schloss die Augen und ließ
sich von den ersten Frühjahrssonnenstrahlen wärmen. Ein
lauer Wind umspielte ihn und ganz entfernt meinte er,
ein leises Glockenläuten zu hören.
Er öffnete blitzschnell die Augen und lauschte. Diesmal
hatte er es sich wohl nur eingebildet. Oder doch nicht?
Das Geheimnis. Er hatte es nicht vergessen. Aber er
wusste nicht so recht, wo und wie er suchen sollte, vor
allen Dingen wonach. Vielleicht sollte er den alten
Jörgen heute Abend wieder mal besuchen.
„Du bist auf dem richtigen Weg.“
Jakob erschrak. Diese hohle, flüsternde Stimme, wie aus
weiter Ferne. Er spürte noch eine laue Bö und schon war
der Wind weg. Ringsum Stille, nur die Vögel zwitscherten
vergnügt.
Jetzt wollte er Menschen um sich haben, damit seine
Verwirrung verflog.
Er ging ins Café, grüßte die Wirtin und die drei Alten
am Stammtisch. Dann setzte er sich an den kleinen Tisch
am Fenster, an dem er am liebsten saß.
Im Antiquariat hatte kein Licht gebrannt. Er würde
nachher noch einmal vorbei schauen.
Es waren noch keine anderen Gäste da. Die Wirtin brachte
ihm eine Schokolade.
„Der alte Jörgen ist zum Bahnhof geradelt, holt seine
Tochter ab. Sie kommt ein paar Tage zu Besuch.“
Er nickte. Sagen konnte er nichts. Er spürte seinen
Herzschlag.
Jennifer. Er hatte oft an sie gedacht. Seit über einem
Jahr war sie weg. Und nun kam sie zu Besuch. Ob sie in
ihre alte Wohnung kommen würde? Jakob wurde unruhig.
Er bezahlte und ging eilig davon.
Im Antiquariat war es immer noch dunkel.
Enttäuscht ging er über den kleinen Platz rauf zur
Mühlenstraße. Er dachte an seine erste Begegnung mit
ihr, an ihre schönen Hände, an den Tee und an die Bücher
auf dem Stuhl. Gar nichts wusste er von ihr und doch
schien sie ihm so vertraut.
Zuhause setzte er Teewasser auf. In der kleinen Küche
hatte er, wie Jennifer, ein Tischchen mit zwei Stühlen
untergebracht. Er saß gern dort und schaute zum Hof
runter, auf die hohen Pappeln, die das gegenüberliegende
Haus fast völlig verdeckten.
Jakob goss den Tee auf und holte sich ein paar Hefte zum
Korrigieren. Eine Hausarbeit über die Pariser Commune.
Seine Gedanken schweiften immer wieder ab.
Er ging rüber ins Zimmer und machte die
Schreibtischlampe an. Unschlüssig stand er da.
Wie lange würde sie bleiben? Und wenn sie ihn
tatsächlich besuchte, was sollte er ihr sagen?
Er nahm den Block, der auf dem Schreibtisch lag und
begann zu schreiben. Zeile für Zeile schrieb er behutsam
auf das weiße Papier. Er las sein Gedicht noch einmal
und plötzlich fühlte er sich besser.
Vergnügt pfiff er eine Melodie vor sich hin, ging zurück
in die Küche und korrigierte die Arbeiten.
Nach einer Stunde war er fertig.
Er ging in sein Schlafzimmer, machte das Fenster weit
auf und atmete die laue Frühlingsluft ein. Der Wind
bewegte sacht die Vorhänge.
Seine Gedanken wanderten immer wieder zu Jennifer.
Vielleicht würde er morgen zum Antiquariat gehen.
Samstags hatte der alte Jörgen seinen Laden bis mittags
geöffnet.
Plötzlich fiel ihm der Speicher ein.
Sie hatte noch Sachen oben. Möglicherweise war sie
deswegen gekommen. Er selbst hatte den Speicher nicht
gebraucht und war noch nie oben gewesen.
Er ging zurück in die Küche und schaute auf die alte Uhr
an der Wand. Kurz vor sechs. Seine Nachbarin aus der
unteren Stadt hatte sie ihm zum Abschied geschenkt. „Die
haben Sie doch immer so schön gefunden und mir ist die
Zeit nicht mehr wichtig.“, hatte sie gesagt. Früher
hatte er manchmal bei ihr gesessen und sich ihre kleinen
Geschichten angehört.
„Vielleicht sollte ich sie besuchen?“, dachte er.
Der Samstag war schulfrei.
Während Jakob sein Frühstück zubereitete, beschloss er,
einen Abstecher in die untere Stadt zu machen. Die alte
Frau Retzel würde sich bestimmt freuen.
Wie immer ging er durch den Park. Die warmen
Sonnenstrahlen stimmten ihn heiter. „Der alte Winter, in
seiner Schwäche hatte sich in raue Berge zurückgezogen“,
dachte Jakob. Ein Frühlingsgedicht, ja er würde ein
Frühlingsgedicht schreiben, oder eine Geschichte. Viele
Ideen purzelten in seinem Kopf durcheinander. Er dachte
an seine Zeilen von gestern Abend, sein Gedicht über die
verpasste Gelegenheit und seufzte.
In der unteren Stadt kaufte er einen Blumenstrauß und
ging dann den vertrauten Weg bis in die Kästnerstraße.
Alles war unverändert. Die Straßenbahn quietschte um die
Ecke und Leute hasteten an ihm vorbei.
Er spürte keine Wehmut, hatte kein Heimweh nach der
unteren Stadt. Die Hochstadt war wohl immer sein Kiez
gewesen, er hatte es nur früher nicht gewusst.
Etwas zaghaft drückte er die Klinke der großen Haustür
runter und ging hinein. Ein Geruch von Mittagessen und
Medizin schlug ihm entgegen. Während er die Stufen in
den dritten Stock hoch ging, wickelte er die Blumen aus.
Vor der Wohnungstür verweilte er einen Moment. Er hörte
Klaviermusik. Dann klingelte er.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er hinter der Tür ein
Schlurfen vernahm.
„Ja, ja, ich komme ja schon.“, hörte er die alte Frau
Retzel rufen. Dann ging die Tür auf.
„Herr Peters, nein, so eine Überraschung. Was machen Sie
denn hier?“
„Guten Tag, Frau Retzel, ich bringe den Frühling.“,
sagte er lachend und hielt ihr den Blumenstrauß hin.
Sie nahm die rot-gelben Tulpen und strahlte.
„Das Sie das noch wissen. Ach bitte, kommen Sie doch
rein. Ich freue mich ja so. Sie sind der erste Gast und
dann noch so überraschend. Ich mache gleich Kaffee. Sie
haben doch ein bisschen Zeit?“
Frau Retzel wartete keine Antwort ab, sondern schlurfte
in die Küche.
Da standen viele große und kleine Vasen auf dem Tisch.
Sie suchte eine passende aus, füllte sie mit Wasser und
sagte, auf die anderen Gefäße deutend: „Da muss ich
nachher nicht immer im Buffett rumsuchen, so geht’s
schneller. Ach, Herr Peters, so eine Freude. Na ja, als
Geschichtslehrer haben Sie eben ein gutes Gedächtnis für
Jahreszahlen. Ich hätte es mir ja denken können.“
Erst in diesem Moment begriff Jakob, dass Frau Retzel
Geburtstag hatte.
„Hier bitte, machen Sie doch die Flasche auf, Sie müssen
unbedingt mit mir anstoßen, ja.“
Sie hielt ihm eine Flasche Champagner hin. Etwas
verschämt, mit einem spitzbübischen Augenaufschlag sagte
sie: „War im Angebot.“
Vorsichtig wickelte Jakob das metallene Papier vom
Korken, drehte den Draht locker und ließ es knallen.
Frau Retzel lachte und hielt ihm zwei edle
Kristallgläser hin.
„Auf Ihr Wohl, Frau Retzel. Ich wünsche Ihnen alles
Gute.“
„Und auf das Ihre, Herr Peters. Kommen Sie, wir setzen
uns rein in die gute Stube. Der Kaffee braucht noch
einen Moment. Wie geht es Ihnen denn? Ach, das Sie an
meinen Geburtstag gedacht haben. Ich weiß gar nicht, was
ich sagen soll. Erzählen Sie doch mal, wie ist es denn -
dort?“
Sie gingen ins Wohnzimmer und setzen sich nebeneinander
auf das Biedermeiersofa. Der große Tisch war feierlich
gedeckt.
„Ich habe Sie spielen gehört.“, sagte Jakob mit einem
Blick auf das Klavier.
„Ach, woher denn, Herr Peters. Das war im Radio. Ich
spiele kaum noch. Die Finger machen nicht mehr so mit.
Und die großen Träume sind ausgeträumt. Der Krieg, Sie
wissen ja.“
Frau Retzel lachte ein wenig verlegen.
„Na ja, damals musste ich meine Mutter unterstützen. Der
Vater ist im Januar 45 gefallen, kurz vor Schluss.
Stellen Sie sich das vor. Und wir waren vier Kinder, ich
war mit 15 die Älteste. Meine drei Brüder waren damals
noch keine zehn Jahre alt.“
Sie seufzte.
„Ein paar Jahre später habe ich dann aber doch noch
Musik studiert.“
Frau Retzel blickte gedankenverloren auf das Klavier.
Sie schien vergessen zu haben, dass Jakob neben ihr saß.
Ihr Leben zog in tausend Einzelheiten durch ihre
Gedanken. Sie sprach mit sich selbst, den Blick in ihre
eigene Vergangenheit gerichtet.
„Bin sogar Meisterschülerin gewesen. Ich habe immer
davon geträumt, Konzertpianistin zu werden oder Sänger
bei Liederabenden zu begleiten. Na ja, da hätte ich
allerdings mutiger sein müssen. Aber wer weiß, ob mich
die Kunst ernährt hätte. Vielleicht sollte das alles so
sein.“
Sie trank einen Schluck Champagner.
Jakob unterbrach sie nicht.
„Nein, bestimmt nicht. Heute glaube ich, es hat nicht so
sein sollen. Ich war zu vorsichtig. Der Krieg war nicht
schuld. Ich war es selber. Oft stelle ich mir vor, wie
glücklich mein Leben hätte sein können. Aber das Glück
hat sich immer nur in meinen Träumen abgespielt.“
Die alte Frau stand auf, ging zum Klavier und stellte
das Glas darauf ab. Sie schlug ein paar Tasten an und
lauschte den Tönen nach. Tiefe Falten hatten sich um
ihre Mundwinkel gegraben. Sie sah müde aus.
„Ich bereue, was ich nicht getan habe, verstehen Sie?“
Jakob verstand.
Zu sagen vermochte er nichts. Er seufzte nur.
Frau Retzel schaute kurz auf, ging aber nicht darauf
ein.
„So und jetzt hole ich den Kaffee und selbstgebackenen
Kuchen. Kommen Sie, Herr Peters, helfen Sie mir. Ich
sollte den verlorenen Träumen nicht nach hängen. Ist ja
doch nichts zu ändern. Na ja, an einem solchen Tag denkt
man halt an die seltsamsten Dinge und dann wird man ganz
traurig.“
„Wann kommen denn Ihre Gäste, Frau Retzel?“
„Tja, das weiß ich nicht so genau. Ich habe ja gar
nichts verabredet. Wer kommen will, kommt einfach. Zeit
spielt keine Rolle. Wissen Sie, dass ich immer noch auf
den Platz hinsehe, wo die alte Küchenuhr gehangen hat.
Verrückt, nicht wahr? Ob der Briefträger schon da war?
Seien Sie doch so nett und holen Sie mir die Post nach
oben, ja?“
„Na, klar, das mache ich. Wer weiß, vielleicht muss ich
ja heute zweimal gehen.“
„Sie nehmen mich doch schon wieder auf den Arm.“
Sie drohte ihm schmunzelnd mit dem Finger und gab ihm
den Briefkastenschlüssel. Jakob sprang die Treppen
runter, schloss den Briefkasten auf und nahm eine Karte
und einen Brief heraus. Der Brief sah amtlich aus. Die
Karte hatte eine zarte Handschrift. Eine bunte 75 war
vorn drauf. Jakob ging langsam wieder nach oben. Und er
hatte noch gewitzelt, von wegen eine Menge Post. Oben
war die Tür nur angelehnt. Er ging hinein und sagte so
heiter wie möglich: „Hier bitte, Frau Retzel, nicht so
viel wie ich dachte. Na ja, schreiben ist aus der Mode
gekommen.“
„Ja, ja. Da brauche ich ja nun meine Brille. Wo hab’ ich
die denn? Ach hier.“
Sie steckte das Etui zurück in die Schürzentasche,
winkte Jakob, ihr zu folgen und sie gingen wieder ins
Wohnzimmer, setzten sich an den Tisch. Jakob hatte ein
großes Stück Erdbeerkuchen auf dem Teller und der Kaffee
duftete.
„Den Kuchen habe ich heute Morgen erst gebacken, er ist
ganz frisch. Er wird Ihnen sicher schmecken. Ich gebe
Ihnen später noch etwas davon mit.“
Er schmeckte wirklich wunderbar. Im Augenwinkel sah
Jakob, wie Frau Retzel den amtlichen Brief beiseite
legte.
„Oh je, die Stromrechnung. - Ach, die Martina, wie nett.
Sehen Sie, Herr Peters, eine ehemalige Schülerin von
mir. Dreizehn war sie, als sie bei mir anfing. Jetzt ist
sie fast dreißig, gibt Konzerte, sogar im Ausland. Ein
sehr begabtes Mädchen. Hab allerdings jahrelang nichts
von ihr gehört. Aber meinen Geburtstag vergisst sie nie.
Zwei CDs hab ich von ihr.“
„Spielen Sie mir die doch mal vor.“
„Interessieren Sie sich denn dafür? Na, schön.“
Sie ging zum Sidebord, nahm eine CD aus der Schublade,
schaltete die kleine Anlage ein und setzte sich wieder.
„Hummel.“
„Bitte?“
„Johann Nepomuk Hummel. Die Klaviersonate Nr.3, opus 20.
Sie spielt wunderbar, nicht wahr?“
„Ja.“
Es klingelte. Frau Retzel stand auf, ging zur Tür und
kam nach kurzen Augenblicken etwas enttäuscht zurück.
„Der Paketbote. Hat etwas abgegeben, für Herrn Wiesner.
Ein netter, alter Herr. Wohnt jetzt in Ihrer Wohnung,
ist aber fast nie da. Na, ich werde ihm das Päckchen
nachher bringen. Ich höre es ja, wenn er kommt.“
Sie verbrachten zwei gemütliche Stunden. Jakob hatte das
Gefühl, es sei nun an der Zeit zu gehen.
„Ja, dann werde ich mal wieder.“, sagte er und erhob
sich.
„Bleiben Sie doch noch. Wir haben uns so lange nicht
gesehen. Und Sie haben noch gar nicht erzählt, wie es da
oben ist. Nehmen Sie noch eine Tasse Kaffee. Es ist ja
genug da. Und von dem Streuselkuchen haben Sie auch noch
nicht probiert. Wissen Sie, ich bekomme selten Besuch.
Und die zweite CD haben wir auch noch nicht gehört.“
„Also gut, Frau Retzel, ein bisschen Zeit habe ich ja
noch.“
Das Telefon läutete. Die alte Frau Retzel schlurfte in
den Korridor und er hörte, wie sie nach einer Weile
sagte: “Ja, schade, da kann man nichts machen. Nein,
nein, das verstehe ich schon. Holen wir nach, ja,
sicher, spätestens zum nächsten Geburtstag.“
Sie legte den Hörer auf und kam wieder in die Stube.
„Das war eine Bekannte. Sie kann nicht kommen.“
„Und Ihre Brüder, kommen die heute?“
„Ach, wo denken Sie hin! Der eine lebt in Amerika. Von
dem habe ich seit Jahren nichts gehört. Der jüngste ist
Rechtsanwalt. Der hat keine Zeit. Wahrscheinlich hat er
es auch vergessen. Weihnachten hatte ich ihm eine Karte
geschickt. Da habe ich bis heute keine Antwort. So ist
das eben. Der Älteste ist vor zwei Jahren gestorben,
kurz vor seinem 70.Geburtstag. Die alte Frau Reuter aus
dem Parterre wollte ja kommen, aber man hat sie gestern
ins Krankenhaus gebracht. Irgendwas mit dem Magen. Man
muss dankbar sein, wenn es einem selber halbwegs gut
geht.“
Jakob war froh, dass er seine Idee, Frau Retzel zu
besuchen wahr gemacht hatte. Außerdem hatte er ja
wirklich Zeit.
Am späten Nachmittag half er der alten Frau, den Tisch
abzuräumen.
Es war niemand mehr gekommen.
Sie sortierten das unbenutzte Geschirr in das Buffett.
Jakob holte die leeren Vasen aus der Küche.
Auf dem großen Tisch im Wohnzimmer standen seine Tulpen.
„Sehen Sie, Herr Peters, das hat auch seine Vorteile, da
muss ich nicht so viel abwaschen. Na ja, ich hätte es
gern gemacht. Aber egal. Wer nicht kommt, braucht nicht
zu gehen.“, sagte sie ein wenig sarkastisch.
„Warten Sie, ich packe Ihnen noch Kuchen ein. Es ist ja
eine Menge übrig und allein schaffe ich das sowieso
nicht.“
Sie machte eine große Tüte zurecht. Jakob bedankte sich
herzlich.
Er war verlegen.
Die alte Frau Retzel. Sie tat ihm leid.
„Hier haben Sie meine neue Adresse und Telefonnummer.
Kommen Sie mich doch auch mal besuchen. Ich würde mich
sehr freuen.“
Er gab ihr seine Visitenkarte.
„Ja, das mache ich, Herr Peters, ein bisschen neugierig
bin ich schon, wie es da so ist. Ich nehme mir dann ein
Taxi. Der Weg ist ja ziemlich weit.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
Er umarmte die alte Frau, nahm die Tüte mit dem Kuchen
und winkte ihr auf der Treppe noch mal zu, bevor sie die
Wohnungstür schloss.
Erst als er den Park erreicht hatte, begann seine
bedrückte Stimmung allmählich zu schwinden.
Er hatte nicht gewusst, dass Frau Retzel so reumütig
über ihr Leben dachte. Und er hatte früher, als er ihr
noch gegenüber wohnte, nicht bemerkt, dass sie so einsam
war.
Wie lange sie wohl schon nicht mehr Klavier spielt? Oft,
wenn er an ihrer Tür vorbei gekommen war, hatte er
gedacht, sie sei es, die spielt.
Fast zehn Jahre hatte er Tür an Tür mit ihr gewohnt und
wusste so wenig von ihr. Sie hatte zwar öfter versucht,
eine Gelegenheit zu einem Gespräch zu finden und er
hatte auch manches Mal bei ihr gesessen, aber sie
richtig kennen zu lernen, hatte er sich doch nicht die
Mühe gemacht. Er nahm sich vor, sie ab und zu anzurufen.
An Jennifer hatte er den ganzen Nachmittag nicht
gedacht.
Es begann zu regnen. Er ging zügiger und sah schon das
Ende vom Park. In wenigen Minuten würde er zu hause
sein.
Als er in die Grabengasse einbog, kam ihm Jennifer
entgegen.
„Oh, hallo, Herr Peters, wie geht es Ihnen? Sie sehen
ein bisschen betrübt aus. Ist was passiert?“
„Nein, nein, ich war wohl nur Gedanken versunken. Das
ist ja eine Überraschung. Was machen Sie denn hier?“
„Ich habe ein paar Tage frei und hatte Sehnsucht nach
meinem Vater. Wollte mal sehen, ob er die Bücher
inzwischen in den Katalog gearbeitet hat.“
Sie lachte.
„Und, hat er?“
„Nein, hat er nicht. Und wenn er es getan hätte, wäre
ich ernsthaft besorgt. Wenn Sie im Moment nichts
Besseres vorhaben, Herr Peters, könnte ich Sie doch zu
einem Kaffee einladen. Haben Sie Lust?“
„Ja, äh, nein, also, ich habe heute schon so viel Kaffee
getrunken. Aber wie wär’s, wenn ich Sie zu einem Tee
einlade. Ich habe hier eine ganze Tüte frischen,
selbstgebackenen Kuchen.“
„Ja, auch gut. Einen Abstecher in meine alte Wohnung?
Das kann ja ganz spannend sein.“
Sie hakte sich vergnügt bei ihm ein und sie gingen zur
Mühlenstraße.
Jakob zog den Schlüssel aus der Manteltasche und spürte,
dass er rot wurde. Was würde sie nur denken, wenn sie
das bunte Schlüsselband sah.
Er stellte das Kuchenpaket in der Küche ab und setzte
Teewasser auf.
Jennifer hatte sich auf den Platz am Fenster gesetzt,
schaute auf den Hof mit den hohen Pappeln und hing ihren
Erinnerungen nach. Der Regen trommelte gegen die
Fensterscheibe.
„Du meine Güte“, sagte Jakob plötzlich.
„Ich habe das Fenster im Wohnzimmer offen gelassen.
Hoffentlich hat es nicht reingeregnet.“
„Kümmern Sie sich ruhig um den Tee, ich mach das
schon.“, sagte Jennifer und ging nach nebenan. Sie
kannte sich ja aus und Jakob verstand, dass sie in ihrer
einstigen Wohnung vielleicht noch einen verspäteten
Abschied nehmen wollte.
Ob sie bereute, dass sie gegangen war? Sicher nicht, sie
wirkte viel zu fröhlich. Er seufzte.
„Der Tee ist fertig.“
„Ja, ich komme.“
Ihre Stimme klang auf einmal seltsam ernst. Sie setzte
sich wieder ans Fenster und sie tranken Tee. Jakob hatte
den Kuchen von Frau Retzel auf den Tisch gestellt und
Jennifer griff ungeniert zu. Er selber bekam fast keinen
Bissen runter.
„Hm, Streuselkuchen, der schmeckt aber lecker. Wirklich
selbstgebacken?“
„Ja, aber nicht von mir. Meine ehemalige Nachbarin in
der unteren Stadt ist heute 75 geworden.“
„Ich bin froh, dass ich damals weg gegangen bin.“, sagte
Jennifer unvermittelt.
„Vor ein paar Jahren hatte man mir schon einmal eine
Stelle im Ausland angeboten. Damals habe ich abgelehnt.
Später habe ich mich dann oft geärgert, dass ich zu
feige war, ins kalte Wasser zu springen. Wenn ich so
eine Gelegenheit noch einmal bekomme, habe ich gedacht,
dann mach’ ich es. Und im vorigen Jahr bekam ich noch
mal ein Angebot. Eine zweite Chance. Ich musste es
machen. Verstehen Sie?“
Irgendwie hatte er den Eindruck, dass es wie eine
Rechtfertigung klang.
„Wissen Sie, am liebsten würde ich auch alles
hinschmeißen. Ich wollte immer Schriftsteller werden.“
„Ja – und?“
Er blickte sie verwundert an.
„Übrigens, Ihre Sachen sind noch auf dem Speicher.“
Er wollte das Thema wechseln.
„Ich weiß, aber ich muss das mit dem Speicher noch mal
verschieben, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Im Sommer
bin ich längere Zeit hier. Da kann ich die Sachen dann
mitnehmen. Ich werde meinen Mann bitten, dass wir mit
dem Auto herfahren. Es müsste alles reinpassen. Ist ja
nicht viel.“
Jakob hatte das Gefühl, an dem letzten Bissen zu
ersticken. Wie hatte er nur denken können, dass sie
allein lebte. Er nickte.
„Ich benutze den Speicher nicht. Sie können sich Zeit
lassen.“
„Kommen Sie doch morgen mal rüber ins Antiquariat. Da
können wir alle noch ein bisschen plaudern. Es ist
schön, hier zu sein.“
„Ja, schön.“
Jakob wurde er immer einsilbiger. Als Jennifer sich
verabschiedete, hielt er sie nicht zurück.
„Vielen Dank für den leckeren Kuchen.“
„Keine Ursache und grüßen Sie Ihren Vater von mir.“
„Mach’ ich, bis morgen dann.“
Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Ich glaube, Sie haben Talent.“
Ihre Stimme klang ein wenig hohl, wie aus weiter Ferne.
Er schloss die Wohnungstür.
In der Küche setzte er sich auf den Stuhl am Fenster und
schaute in den Hof. Es regnete immer noch. Wie lange er
so gesessen hatte, wusste er nicht. Seine Gedanken
drehten sich im Kreis. Wann hatte sie ihren Mann kennen
gelernt? Hatte er, Jakob, die Gelegenheit damals schon
verpasst oder gab es den anderen schon so lange? Jetzt
erst wurde ihm klar, dass er all die Monate hindurch
immer auf sie gewartet hatte.
Er stand auf, ging ins Wohnzimmer, um sich eine
Zigarette zu holen.
Das Gedicht! Es lag auf dem Schreibtisch und wenn man
zum Fenster ging, musste man es sehen, musste man es
lesen. Ob Jennifer...?
Seine Hand zitterte, als er ein Streichholz aus der
Schachtel nahm. Wie sollte er ihr morgen in die Augen
sehen?
Er setzte sich wieder ans Küchenfenster. Draußen bog der
Wind die Pappeln mal in die eine, mal in die andere
Richtung. Der Regen trommelte auf das metallene
Fensterbrett.
Vor einem Jahr hatte sie gewiss noch keinen Ehering
getragen. Ihre sanften Finger, es wäre ihm aufgefallen.
Sonntagmorgen.
Es regnete immer noch. Jakob schaute auf die Uhr. Kurz
vor acht. Er schloss die Augen und versuchte wieder
einzuschlafen. Es gelang ihm nicht. Immerfort musste er
an Jennifer denken. Und an die alte Frau Retzel.
Er stand auf und ging ins Bad. Dann aß er ein Stück
Erdbeerkuchen, trank Kaffee und schaute auf die Pappeln.
„Vielleicht sollte ich doch nicht zum Antiquariat rüber
gehen.“, dachte er. Aber er verwarf den Gedanken gleich
wieder. Womöglich hatte sie das Gedicht gar nicht
gelesen. Dann würde sie nicht verstehen, dass er
wegblieb.
Er ging zum Schreibtisch, nahm das Blatt und las:
Sehen
Spüren
Nichts sagen.
Fühlen
Lieben
Keine Worte.
Angst
Sehnsucht
Bedrücktes Schweigen.
Alles ist schwierig
Alles ist leicht
Ungesagtes bleibt im Traum gefangen.
Er legte das Gedicht in die Schublade und ging zum
Telefon.
Aus dem Telefonbuch suchte er die Nummer von Frau Retzel.
Er würde sich für den gestrigen Nachmittag bedanken. Die
Leitung war besetzt. Wahrscheinlich gratulierte ihr
jemand nachträglich zum Geburtstag. Er schrieb die
Telefonnummer auf einen kleinen Zettel und legte ihn
sorgfältig neben das Telefon.
Dann ging er zum Computer und versuchte seine Gedanken
zu ordnen. „Schreibend über die Dinge kommen“, so hatte
er seine Gedichte und Geschichten immer empfunden.
Vielleicht gelang es ihm auch diesmal.
Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er das Telefon
erst nach mehrmaligem Läuten wahrnahm. Wer konnte das
sein?
Er speicherte das Geschriebene und hastete in den
Korridor. Als er den Hörer abnahm und sich meldete,
musste er ziemlich verstört geklungen haben, denn der
Anrufer erkundigte sich noch mal nach seinem Namen.
„Ja, Peters, Jakob Peters heiße ich. Und wer sind Sie?“
„Mein Name ist Wiesner. Ich wohne in Ihrer ehemaligen
Wohnung in der Kästnerstraße. Frau Retzel hat mir
gestern Abend ein Päckchen gebracht, weil ich nicht da
war. Und heute Morgen hat sie mir einen Brief für Sie
gegeben. Er sei wichtig, hat sie gesagt.“
„Aber ich war doch gestern bei ihr.“
„Ich könnte Ihnen den Brief vorbeibringen, ich bin mit
dem Auto in ein paar Minuten da, wenn es Ihnen recht
ist.“
„Ja, ich bin zuhause. Sehr freundlich, wenn Sie sich die
Mühe machen wollen.“
„Also dann bis gleich.“
Es klickte in der Leitung. Aufgelegt.
Jakob wusste nicht, was er davon halten sollte. Aber es
würde sich ja in Kürze aufklären.
Für das Treffen im Antiquariat hatte er gestern mit
Jennifer keine Zeit vereinbart. Er beschloss, den Besuch
von Herrn Wiesner abzuwarten und dann loszugehen.
Der Regen hatte aufgehört. Er öffnete das Zimmerfenster.
Ein frischer, würziger Duft wehte ihm entgegen. Die
dunklen Wolken hatten sich verzogen und die Sonne
schien.
Vor dem Haus bremste ein Auto. Kurz darauf klingelte es
an der Tür.
Jakob öffnete.
„Mein Name ist Wiesner. Wir hatten gerade telefoniert.“
„Ja, bitte, kommen Sie rein.“
Er ging voraus ins Zimmer und wies auf die Couch. Herr
Wiesner setzte sich und hüstelte etwas verlegen. Jakob
setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch und wartete.
„Hier, das ist der Brief. Und das soll ich Ihnen auch
noch geben.“
Es waren die beiden CDs, die sie gestern gehört hatten.
Jakob blickte Herrn Wiesner an.
„Ja, aber...“
„Es muss alles ganz schnell gegangen sein. Sie hat heute
Morgen noch nach dem Arzt telefoniert und als der da
war, hat er bei mir geklingelt und mich gebeten, rüber
zu kommen. Da hat sie mir dann den Brief für Sie gegeben
und die beiden CDs. Sie wüssten schon, hat sie gesagt.“
„Ja, ich weiß schon.“
Er saß da, hielt den Brief in der Hand und seine
Umgebung verschwand wie in einem Nebelschleier.
Nach einer ganzen Weile, in der er stumm da gesessen
hatte, fragte er Herrn Wiesner, ob er ihm etwas anbieten
könne.
„Nein, danke. Ich muss auch gleich wieder los.“
„Ja, dann danke ich Ihnen sehr für Ihre Mühe. Wann wird
denn...?“
„Ich kann Sie anrufen, wenn ich es weiß.“
„Ja.“
Jakob brachte Herrn Wiesner zur Tür und ging zurück ins
Zimmer. Er legte die CDs auf den Schreibtisch, den Brief
wagte er nicht zu öffnen. In geschwungenen Buchstaben
stand „Für Jakob Peters“.
Später, ja später würde er ihn lesen.
Jetzt wollte er an die Luft.
Er griff seine Jacke, schloss die Wohnungstür hinter
sich zu, zog die Jacke auf der Treppe an und ging
grußlos an der netten Frau im Parterre vorbei, die ihm
verwundert nachsah.
Jetzt, am Sonntag, um die Mittagszeit, waren kaum Leute
auf der Straße. Aus einem offenen Küchenfenster im
Nebenhaus stieg ihm der Duft von Rotkohl in die Nase.
Jakob stellte sich Goulasch und Klöße dazu vor. Ihn
überkam ein solches Gefühl von Heißhunger, dass er
beschloss, Jennifer und den alten Jörgen zum Essen
einzuladen.
Das Antiquariat hatte im hinteren Bereich noch zwei
Räume. Früher waren sie wahrscheinlich als Büro genutzt
worden, aber der alte Jörgen hatte sie umfunktioniert in
einen großen Wohnbereich. Wenn das Antiquariat
geschlossen war, musste man durch den Nebeneingang ins
Haus gehen.
Er schaute durch die gläserne Ladentür, sah aber
niemanden. Auf sein Klopfen reagierte keiner und so ging
er nebenan ins Haus. An der Wohnungstür war ein altes
Messingschild angebracht, so wie er es bei seinem ersten
Besuch neben Jennifers Wohnungstür gesehen hatte.
Darunter war der Klingelknopf.
Sonst hatte er den alten Jörgen immer im Laden besucht,
nie so privat. Ihm fiel ein, dass er ja eine Flasche
Rotwein hätte mitnehmen können.
Etwas zögerlich klingelte er. Jennifer öffnete ihm die
Tür.
„Hallo, Herr Peters. Ich hatte schon Sorge, dass Sie
nicht kommen würden. Bitte, hier entlang.“
Er betrat einen großen, etwas dunklen Raum, in dem ihm
zuerst die hohen Bücherregale auffielen.
Er kam sich vor wie in Faust’s Studierstube. In einer
Ecke stand ein abgewetzter Sessel, daneben eine
Stehlampe, die so unmodern war, dass Jakob sie mit
belustigtem Schmunzeln ansah.
„Mein Vater kommt gleich. Setzen Sie sich bitte.“
Sie wies auf das Sofa. Er schob ein paar Bücher zur
Seite und setzte sich.
„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.“, sagte Jennifer
plötzlich.
Er schaute sie an.
„Nein, das müssen Sie nicht. Ich muss wohl wirklich
mutiger sein, in jeder Hinsicht. Was halten Sie davon,
wenn ich Sie und Ihren Vater zum Essen einlade?“
Sie lächelte und begriff, dass sie nicht auf ihrer
Entschuldigung beharren sollte. Jakob hatte es ihr
leicht gemacht.
„Ja, das ist eine hübsche Idee. Zu der kleinen Pension,
in der ich über’s Wochenende wohne, gehört ein Lokal. Da
waren wir früher, als meine Mutter noch lebte, manchmal
sonntags zum Essen. Oh, ich glaube, da kommt mein
Vater.“
„Ah, Herr Peters, wie schön, dass Sie Zeit für uns
haben.“
„Ich wollte Sie und Ihre Tochter zum Essen einladen,
wenn Sie einverstanden sind.“
„Ha, das klingt gerade, als hielten Sie um Ihre Hand
an.“
Der alte Jörgen lachte verschmitzt.
„Vater!“
„Lassen Sie nur, Jennifer, Hauptsache, ihr Vater ist
einverstanden.“
Erleichtert sah er, dass sie nun auch lachte.
„Also gut Kinder, gehen wir essen.“
Jennifer half ihrem Vater in den Mantel, zog ihre
Lederjacke an und dann gingen die drei über den kleinen
Platz zu der Pension, in der Jennifer wohnte und in der
sich das Lokal befand, von dem sie gesprochen hatte.
„Hier war ich ja ewig nicht.“
Der alte Jörgen wirkte ein wenig bedrückt.
Es mochte die Erinnerung sein, weswegen er seine
Schritte unmerklich verlangsamte. Er ließ es sich aber
nicht anmerken.
Sie betraten das Lokal und gleich kam der Wirt auf sie
zu. Er wies ihnen einen Tisch am Fenster an und brachte
die Speisekarte. Der alte Jörgen holte seine Brille aus
der Innentasche des Jacketts und begann aufmerksam zu
lesen. Ab und zu murmelte er ein paar Worte vor sich
hin, die Jakob nicht verstand und Jennifer reagierte
darauf nicht.
„Schön, dass Sie wieder mal hier sind, Herr Jörgen.
Möchten Sie schon etwas zu trinken?“
Die beiden Alten hatten sich einen Moment lang
angeschaut. Der alte Jörgen lächelte.
„Was haltet ihr von einer Flasche Rotwein, am liebsten
einen trockenen Bordeaux?“
Er klappte die Karte zu und schaute die beiden jungen
Leute fragend an.
„Ja, und eine große Flasche Wasser, bitte.“
Jennifer hatte ihre Karte ebenfalls zugeklappt.
„Einverstanden.“
Jakob schaute noch immer unschlüssig in die Speisekarte.
Er dachte an den Duft von Rotkohl und an Jennifers
Hände. Dann legte er auch die Karte zur Seite.
Mit einer eleganten Geste präsentierte der Wirt den
Bordeaux und goss dem alten Jörgen etwas davon ins Glas.
Der nahm einen kleinen Schluck, ließ ihn genießerisch
auf der Zunge zergehen und nickte dem Wirt zu.
„Köstlich. Vielleicht hätte ich ja schon längst wieder
mal herkommen sollen. “
Der Wirt, der inzwischen auch sichtlich gealtert war,
schaute seinen Gast freundlich an.
„Tun Sie’s doch in Zukunft wieder. Sie wissen ja, für
einen kleinen Schwatz habe ich immer Zeit, auch wenn ich
jetzt allein mit allem zu Recht kommen muss, seit meine
Frau mich verlassen hat. Ich würde mich sehr freuen.“
Sie nickten sich zu und Arthur Jörgen nahm sich vor,
bald wieder herzukommen.
Die drei warteten gespannt, bis der Wirt die Gläser
gefüllt hatte.
„Nun, worauf stoßen wir an?“, fragte Jennifers Vater,
indem er sein Glas hob und schlug gleich vor, ohne eine
Antwort abzuwarten vor:
„Auf die Erinnerungen.“
„Und auf Ungesagtes.“
Jetzt wusste Jakob, dass Jennifer sein Gedicht gelesen
hatte.
„Auf den Wind.“, sagte er etwas zaghaft.
Das zarte Klingen der Gläser erinnerte an Glockenläuten
aus weiter Ferne.
„Entschuldigt mich bitte kurz. Bin gleich wieder da.
Will mal schnell in den Saal schauen, wo wir früher so
oft getanzt haben.“
Er stand auf, ging in Richtung Theke und verschwand dann
in einem Nebenraum.
„Sie haben ihn also auch gehört.“
Jennifer hielt mit beiden Händen ihr Glas und schaute
Jakob nicht an.
„Ja.“
„Und, haben Sie das Geheimnis gefunden?“
Bevor er antworten konnte, kam der alte Jörgen zurück.
„Hat sich fast nichts verändert hier. Der Saal sieht
noch genauso aus wie damals, nur sauberer. Wurde
wahrscheinlich renoviert. Ach, das waren noch Zeiten.“
Er seufzte.
„Haben die Herrschaften ihre Wahl getroffen?“
Mit einem kleinen Block und einem Bleistift stand der
Wirt am Tisch und notierte der Reihe nach die
Bestellungen. Er bedankte sich und ging zur Küche.
Inzwischen hatte Jakob sich eine Zigarette angezündet.
„Darf ich?“, fragte Jennifer.
„Ja, natürlich, ich wusste ja nicht...“
„Ich rauche ganz selten.“, sagte sie entschuldigend.
„Nur, wenn sie ein bisschen nervös ist, stimmt’ s,
Mädel?“
Der Satz ihres Vaters machte sie verlegen.
„Und wenn es gemütlich ist.“, sagte sie schnell.
Jakob lachte sie an, trank ihr zu und dann versickerte
das Gespräch.
Jeder hing seinen Gedanken nach. Der alte Antiquar war
mit seinen Erinnerungen beschäftigt, Jakob dachte an
Frau Retzel und Jennifer dachte an das Gedicht.
„So bitte sehr, einmal Salat, einmal Sauerbraten und das
Goulasch für Sie. Guten Appetit.“
„Lasst es euch schmecken, Kinder. Ich weiß nicht, wann
ich meinen letzten Sauerbraten gegessen habe.“
Er begann mit herzhaftem Appetit zu essen.
„Wie lange bleiben Sie denn noch?“, fragte Jakob und
schaute Jennifer an.
„Morgen früh fahre ich zurück. Schauen Sie ab und zu
nach meinem Vater und achten Sie darauf, dass er sich
nicht doch noch einen Katalog anlegt.“
Der alte Jörgen lachte und nahm einen Schluck Wein.
Nach dem Essen tranken sie noch einen Espresso. Ein
richtiges Gespräch kam nicht mehr in Gang.
„Ich gehe mir mal die Nase pudern“, sagte Jennifer und
stand auf.
Währenddessen beglich Jakob die Rechnung und als sie
wieder da war, holte er ihre Jacken und den Mantel vom
alten Jörgen.
Schweigend gingen sie den steilen Weg zurück zum
Antiquariat. Die Frühlingssonne verbreitete wohlige
Wärme.
„Vielen Dank für die Einladung, Herr Peters.“
Der Alte reichte Jakob seine knochige Hand und dann
verschwand er im Hauseingang.
Jennifer und Jakob standen sich unbeholfen gegenüber.
„Für manche Dinge gibt es keine zweite Chance.“
Er glaubte in ihrer Stimme ein leichtes Bedauern zu
hören. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Er
reichte ihr die Hand, sah noch einmal auf ihre zarten
Hände und ging dann wortlos davon.
Als er seine Wohnungstür aufschloss, sah er im Korridor
den Zettel mit der Telefonnummer. Er nahm ihn,
zerknüllte ihn langsam, warf ihn in den Mülleimer und
ging ins Wohnzimmer. Dort fiel sein Blick auf den Brief.
Nun musste er ihn wohl öffnen. Er nahm einen Brieföffner
und schlitzte das Couvert vorsichtig auf:
„Lieber Herr Peters, ich schicke Ihnen durch Herrn
Wiesner diesen Brief und die beiden CDs, die wir gehört
haben. Ich möchte, dass sie sie als Erinnerung behalten.
Anbei liegt noch ein Zettel mit der Postfachadresse
meiner Schülerin. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn sie
ihr eine Nachricht schicken würden. Ich kann die Karte
nicht mehr beantworten. Schreiben Sie ihr, dass ich froh
bin, dass sie den Mut gefunden hat, den Weg zu gehen,
den ich mir versagt habe. Und wünschen Sie ihr in meinem
Namen viel Erfolg für alle ihre Vorhaben.
Ihnen, lieber Herr Peters, danke ich sehr, dass Sie mich
besucht haben. Sie haben mir eine große Freude gemacht.
Seit einigen Jahren bin ich sehr krank und die Ärzte
haben mir keine Hoffnung machen können. Ich möchte, dass
Sie das Klavier nehmen. Sie können es ruhig verkaufen.
Vielleicht nützt es Ihnen. Mein Bruder, der
Rechtsanwalt, wird keinen Ärger machen. Ich habe ihm
geschrieben, dass ich möchte, dass Sie es bekommen.
Seien Sie mutig und werden Sie glücklich.
Herzlichst Frieda Retzel.“
Jakob faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte
ihn in den Umschlag zurück.
Die Worte von Jennifer fielen ihm ein. „Für manche Dinge
gibt es keine zweite Chance.“
Er ging zum Fenster, machte es weit auf und atmete tief
durch. Wie aus weiter Ferne hörte er Glockenläuten.
Ein Spaziergang, ja, ein Spaziergang würde ihm jetzt gut
tun.
Er griff hastig nach seiner Jacke, sprang die Stufen
hinunter und rannte in den Park.
Aber was war das?
Wie gebannt blieb er stehen. Bildete er sich das ein?
Jakob sah zarte Nebelschleier über den Weg schweben. Und
dann das Flüstern. Er verstand die Worte nicht.
Plötzlich spürte er einen Windhauch in seinem Gesicht,
ganz sacht. Wie ein Streicheln fühlte er es. Lange stand
er so und lauschte in die Stille.
„Jetzt weiß ich es!“.
Er hatte die Worte nur gehaucht, in den tanzenden Nebel
hinein geflüstert.
Da, auf einmal begannen sich die Schleier zu öffnen. Sie
vertanzten sich nach allen Seiten, ganz vorsichtig.
Der Weg wurde allmählich sichtbar.
Schon konnte Jakob ihn deutlich erkennen.
Ein Gefühl von unsagbarer Erleichterung überkam ihn.
Er breitete die Arme aus, legte den Kopf ein wenig in
den Nacken und fing an, sich im Kreis zu drehen.
Erst langsam, zögerlich, dann schneller, immer
schneller. Und dabei lachte er, lachte und lachte und
lachte.
Am liebsten hätte er den Wind umarmt.