Franz Liszt Geschichte

Vieviers, die kleine Stadt im Süden Frankreichs, lag schläfrig in der Märzsonne. Honoré Flaugergues, der einst Friedensrichter in dieser Stadt gewesen war, hatte in einer Auberge zu Abend gegessen und war auf dem Heimweg. Heute konnte ihn das schöne Wetter nicht zu einem ausgedehnten Spaziergang verlocken. Das Rhônetal, in dem er sonst so gern seine überanstrengten Augen im Grün der Landschaft badete, würde ihn nicht vermissen, dachte er und lief zügiger, um endlich in sein Observatorium zu kommen. Er verbrachte sehr viel Zeit in seinem Garten, besser gesagt, in seiner Sternwarte, die er darin errichtet hatte. Der Himmel war für ihn nicht nur ein Firmament, dessen Blau schönes Wetter anzeigte oder nachts zu einem funkelnden Sternenteppich wurde. Er beobachtete ihn mit der Neugier eines Wissenschaftlers und schrieb all seine Wahrnehmungen akribisch auf. Ihm entging nicht viel. Flaugergues gehörte nicht zur Elite prominenter Astronomen des 19. Jahrhunderts, doch er schätzte gerade diese Wissenschaft besonders, gab sich ihr, wenngleich als Amateur, so doch mit großer Begeisterung hin. Lange schon stand er in regem, fachlichem Austausch mit den renommierten Kollegen in Europa, und die wiederum brachten ihm, dem Sternenbeobachter aus Leidenschaft, aufrichtige Anerkennung entgegen. In seinem Observatorium angelangt, nahm Flaugergues sogleich seine Aufzeichnungen zur Hand, um wie jeden Tag Datum und Uhrzeit zu notieren. Mit sorgfältigen Buchstaben schrieb er den 25. März 1811 auf, wandte sich dann seinem Refraktor zu. Der Blick durch sein Fernrohr, das ihm den abendlichen Himmel neunzigfach vergrößerte, ließ ihn sogleich erschauern. Er wischte sich mit der Hand über die Augen, konnte nicht glauben, was er gerade gesehen hatte – einen Nebelfleck riesigen Ausmaßes. Flaugergues fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Wieder und wieder schaute er zum Himmel. Nein, das war kein Nebelfleck! Das war ein Komet, einer, der einen riesigen Schweif hinter sich her zog und so hell war, dass ihm unheimlich wurde. So einen hatte er noch nie zuvor gesehen. Eine Sensation, das war ihm sofort klar, eine ungeheure Sensation! Der alte Herr, der die Fünfzig längst überschritten hatte, zwang sich zur Ruhe. Zunächst musste er alles notieren, musste die Position des Kometen bestimmen und erst dann würde er seine Entdeckung kundtun. In den einschlägigen Journalen hatte man ihn schon öfter erwähnt, damals, 1809, als er seine Erkenntnisse über die Marsflecken nach Paris geschickt hatte. Als er alles zu Papier gebracht hatte, ging er in den Garten hinaus, holte tief Luft, schaute noch einmal nach oben. Sein Erstaunen war grenzenlos. Er konnte die Erscheinung ohne Fernrohr betrachten. Zwei der bedeutendsten Astronomen jener Zeit, der Ungar Franz Xaver Zach und der Franzose Jean-Louis Pons, bestätigten nur wenige Tage nach Flaugergues’ Entdeckung das tatsächliche Vorhandensein des grandiosen Himmelskörpers.*1) Er war damals acht Monate lang in der Abenddämmerung mit bloßem Auge am Himmel zu sehen. Seine größte Helligkeit erreichte er im Herbst 1811. Im Spätsommer desselben Jahres war János, dem alten Schäfermeister, eine Himmelserscheinung aufgefallen, die ihn seltsam bewegte. Auch den Bewohner von Raiding war sie nicht verborgen geblieben. Alle in dem kleinen ungarischen Dorf tuschelten darüber, aber niemand wagte es, laut davon zu sprechen. Es lag eine seltsame Spannung über dem Ort, denn man war sich einig: Ein Komet, der so groß und so hell war, konnte nur Schrecken verheißen. János war auf dem Weg zu Adam Liszt, dem Rentmeister der Schäferei, der für die riesige Herde mit ihren Hirten und Knechten des Fürsten Esterházy verantwortlich war. Mit seiner jungen Frau Anna bewohnte er das stattlichste Gebäude im Dorf, das drei geräumige Kammern hatte. Nun hatte Liszt nach dem Hirten geschickt, ohne zu sagen, warum er ihn zu sprechen wünschte. János sprang von seinem Rappen, band ihn am Eisengitter der Tordurchfahrt an und ging zum Haus. Er hatte noch nicht geklopft, als ihm Adam Liszt bereits die Tür öffnete und ihm ein paar Schritte entgegen kam. Er begrüßte den Schäfermeister, sie wechselten einige Worte auf Ungarisch, dann bat der Verwalter den Gast ins Haus. Es kam selten vor, dass János in das Haus des Verwalters gebeten wurde. Liszt wies ihm einen Stuhl an, blieb selbst am Fenster stehen, schaute hinaus und konnte seine Unruhe doch nicht verbergen. „Meister János, der Komet, was glaubt Ihr? Wird er uns Unheil bringen?“, fragte er, ohne den Gast anzusehen. János zwirbelte seinen Bart, überlegte eine Weile, wiegte den Kopf ein wenig hin und her, schob die Unterlippe nach vorn und dann kamen seine Worte klar und bedacht. „Nem, Uram. *2) Ich glaube, er kündet etwas Besonderes an. Ich sehe ihn schon seit mehreren Wochen und es kommt mir gerade so vor, als müsste etwas heranreifen. Das kann doch kein Unheil sein, Uram. Der Komet bringt kein Unheil, nein, nein, ganz sicher nicht. Etwas Großes, ja, das vielleicht.“ János hatte den Kopf ein wenig gesenkt. Ganz überzeugt war er von seinen Worten nicht. Liszt starrte noch immer zum Fenster hinaus, nickte unmerklich. Im Nebenzimmer war die Hebamme bei seiner Frau. Anna Liszt würde heute ihr erstes Kind zur Welt bringen. Und Adam Liszt, der seit Monaten in ständiger Sorge zu dem Kometen geschaut hatte, war mit einem Mal erleichtert. Dann, so hoffte er, würde auch der Unfall am Ziehbrunnen, den seine Anna im vierten Monat ihrer Schwangerschaft erlitten hatte, ohne schlimme Folgen bleiben. Die Worte des alten Schäfermeisters war er nur zu gern bereit zu glauben. Sie klangen logisch. János stand seit Jahrzehnten in den Diensten des Fürsten und er genoss großes Ansehen bei den Dorfbewohnern. Das war Liszt nicht entgangen, obwohl er selbst erst seit drei Jahren im Dorf lebte. Raiding war eine abgelegene Ansiedlung. Bis zur alten Römerstraße musste man eine ganze Stunde Fußmarsch zurücklegen. Die Dörfler, die nur Ungarisch verstanden, nannten ihren Ort Doborján. Mit ihnen verkehrte der Rentmeister nur selten. Sein Ungarisch war zwar ganz passabel, aber lieber unterhielt er sich mit dem Dorfschulmeister, Johann Rohrer. Der war deutscher Herkunft, ein gebildeter Mann, der auch das Mesneramt und den Kantorendienst an der Orgel verrichtete. Die Worte des Schäfers hatte Liszt gut verstanden, wandte sich ihm jetzt zu und bot ihm einen Becher Wein an. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Die beiden Männer saßen am Tisch, tranken sich schweigend zu. Hin und wieder wechselten sie ein Wort über das Wetter, aber ein richtiges Gespräch kam nicht zustande. Sie dachten an den Kometen und Liszt war froh, dass er die lange Zeit des Wartens nicht allein verbringen musste. Zweimal war die Hebamme durch die Diele gehuscht und wortlos wieder im Zimmer der Anna Liszt verschwunden. Mitternacht war längst vorüber, der Sonntag hatte begonnen, als endlich ein Schrei zu hören war, zaghaft noch, aber es war ein Schrei, ein deutliches, ein lebendiges Zeichen, dass endlich sein Kind das Licht der Welt erblickt hatte. Man schrieb den 22. Oktober 1811, den Geburtstag von Franz Liszt.

Adam Liszt saß an seinem Schreibtisch und...

*1) Der Komet wurde später nach seinem Entdecker benannt und die Wissenschaft kennt ihn noch heute unter dem Namen Flaugergues- Komet oder C/1811 F1  
*2) „Nein, Herr.“