1910
1911
1912
1913
1914
1915
1916
1917
1918
1919
Das Jahr 1011 - spannende Ereignisse,
drohende Gefahren
Wie die Welt
vor hundert Jahren aussah, haben die
Großeltern der Generation erlebt, die
heute selbst schon Enkel hat. Mancher
Mensch älteren Jahrgangs kann sich an
die Erzählungen der Großeltern noch
erinnern. Möglicherweise.
Deutschland reichte 1911 bis nach
Ostpreußen an die russische Grenze.
Damals, zu Beginn des zweiten Jahrzehnts
des 20. Jahrhunderts, war es das
Deutsche Kaiserreich. Dieser politische
Status war die Folge des
Deutsch-Französischen Krieges, der
1871
mit dem Sieg Preußens endete.
Otto von Bismarck ging als
erster Reichskanzler in die Geschichte
ein. Das Kaiserreich stand 1911 noch
unter der Herrschaft von
Kaiser Wilhelm II., der bis
1918
Staatsoberhaupt und zugleich der letzte
deutsche Kaiser war. Bereits
1890
erbat Bismarck gezwungenermaßen um seine
Entlassung. Fortan hatte das Land zwar
einen Kaiser, aber keinen fähigen
Koordinator mehr. Im Jahre
1911
war Theobald von Bethmann-Hollweg schon
zwei Jahre als Reichskanzler im Amt.
Während seine Vorgänger im Vergleich zu
Bismarck keine Durchsetzungskraft
hatten, sondern sich dem Willen des
Kaisers fügten, zeigte Kanzler
Bethmann-Hollweg in seiner Amtszeit bis
1917
überparteiliche Bemühungen. Sein
Bestreben, Sozialdemokraten und
Konservative ausgleichend miteinander zu
verbinden, fand Lob und Anerkennung,
zugleich viel Kritik und
Ablehnung.
Außen- und innenpolitische Konflikte
schwelten. Die Arbeit der Massenverbände
und Parteien bekam mehr Beachtung. Die
kaiserliche Politik war
antisozialdemokratisch. Die Bevölkerung
war hin und her gerissen. Während sich
viele Menschen von der Attraktivität der
Flottenrüstung blenden ließen,
versuchten andere, wachsame Kreise, vor
einem Krieg zu warnen. Die Außenpolitik
des Deutschen Kaiserreiches war um 1911
geprägt von Weltmachtstreben. In Europa
brodelte es. Die deutsche Regierung
hatte die Beilegung der ersten
Marokko-Krise bereits mit Misstrauen
beobachtet, fürchtete um den
kolonial-politischen Status in Afrika.
Und nun hatte Frankreich Militär nach
Marokko entsandt, um aufständische
Berberstämme zu beruhigen. Darauf
reagierte das Deutsche Kaiserreich mit
einem „Panthersprung“. Der Begriff ging
tatsächlich so in die Geschichte ein,
denn das Kanonenboot, das in das
Krisengebiet geschickt wurde, hieß „SMS
Panther“. Diese Aktion schreckte England
und Russland auf. Die Folge war eine
Aufrüstung in beiden Ländern. Die
Streitereien konnten 1911 vertraglich
beigelegt werden. Die Deutschen gaben
ihre Ansprüche in Marokko auf, wurden
von Frankreich territorial entschädigt,
fügten sich scheinbar in die Situation.
Doch die Gebiete, die
Frankreich an das Deutsche Reich
abgetreten hatte, befriedigten die
deutsche Regierung keinesfalls. Damit
erhöhte sich die Kriegsgefahr, denn die
Konflikte zwischen den europäischen
Mächten verschärften sich zusehends und
auch im eigenen Land war der Einfluss
des Militärs zu spüren.
In den letzten Jahrzehnten hatte sich in
allen Lebensbereichen ein großer Wandel
vollzogen. Der Fortschritt hatte aus
einem landwirtschaftlich orientierten
Land ein von der Industrie beherrschtes
Kaiserreich gemacht. Die Städte hatten
sich ausgedehnt. Immer mehr Menschen
siedelten vom Land in die Stadt um.
Schon in der zweiten Hälfte des letzten
Jahrhunderts waren sogenannte
Mietskasernen entstanden, Behausungen,
die dem Traum vom besseren Leben nicht
unbedingt gerecht wurden, für die
Unterbringung vieler Menschen jedoch
notwendig geworden waren. Diese
Mietskasernen reihten sich in den großen
Städten in die Architektur der
Gründerzeit ein. Die Städteplaner hatten
sich beim Entwerfen mehrerer Hinterhöfe
etwas gedacht. Ein Hinterhof musste
mindestens so groß sein, dass eine
Feuerwehrspritze problemlos darin Platz
zum Wenden hatte. Schließlich mussten
viele Familien auf kleinstem
Grundstücksplatz untergebracht werden.
Die Häuser waren verschachtelt, in die
Hinterhöfe fiel kaum Licht und die
Bewohner der Mietskasernen gehörten
stets der ärmeren Bevölkerungsschicht
an. Das
besondere Milieu der
Hinterhaus-Atmosphäre konnte niemand
zeichnerisch so gut umsetzen wie der
Maler Heinrich Zille. Er wurde zum
künstlerischen Inbegriff kleiner Leute
in
Berlin und jeder wusste, was
gemeint war, wenn von „seinem Milljöh“
gesprochen wurde.
Längst war die neuere Architektur der
Städte zu einer Architektur des
Notwendigen geworden. Wenn sie auch
durch Schlichtheit auffiel, so war sie
doch funktional. Aber die Mietskasernen
gehörten nicht zur aufstrebenden
Bauhaus-Architektur, die in der Kunst
mit der Moderne gleichgesetzt wurde. Die
Architekten und Bildhauer Henry van de Velde, Walter Gropius und Lyonel
Feininger seien stellvertretend genannt.
Diese Künstler hatten großen Einfluss
auf die Innenarchitektur und die
Malerei. Funktionales Design,
schnörkelloses Bauen, das war der Trend
der Zeit.
Die Bevölkerung wuchs unaufhaltsam.
Knapp 50 Millionen Menschen lebten 1890
im Deutschen Kaiserreich. Um 1911 waren
es etwa 65 Millionen. Das Land füllte
sich zusehends und die Menschen äußerten
ihre Meinung zu den innen- und
außenpolitischen Gegebenheiten. Es gab
Demonstrationen und organisierten
Widerstand. Herausragende
Persönlichkeiten jener Zeit, die sich
politisch für den Frieden, für
Frauenrechte und die Arbeiter
engagierten, waren u.a.
Rosa Luxemburg,
Karl Liebknecht und Clara
Zetkin. Der Begriff „Sozialistische
Arbeiterbewegung“ war seit dem Ende des
letzten Jahrhunderts mit Leben erfüllt.
Da es immer enger in den Städten wurde,
wuchs die Sehnsucht, sich in der Natur
aufzuhalten und dort Erholung zu finden.
Das Wort Urlaub war noch nicht üblich.
Man fuhr in die Sommerfrische.
Wohlhabende Bürger bevorzugten Seebäder
oder reisten in die Alpen. Hotels und
Pensionen warben mit ihrer idyllischen
Umgebung. Und es gab auch die
Wohltätigkeitsvereine, die es
mittellosen Eltern ermöglichten, ihre
Kinder in sogenannte Ferienkolonien zu
schicken. Damit waren in jedem Fall
Gesundheit und ausreichende Ernährung
verbunden, was für den Großteil der
Bevölkerung keineswegs
selbstverständlich war.
Die sportlichen Aktivitäten füllten
nicht nur die Freizeit. Längst gab es
den Leistungssport. Allen voran erfreute
sich der Fußball großer Beleibtheit.
Während gerade dieser Sport noch bis zum
Ende des letzten Jahrhunderts ein
Privileg von Gymnasiasten war,
verbreitete er sich mit der Gründung des
Deutschen Fußball-Bundes im Jahr 1900 zu
einem Breitensport, doch nur für Männer.
Regionale Verbände schlossen sich unter
dem Dachverband zusammen und
1904
wurde schließlich der Weltfußballverband
gegründet, die FIFA. Die erste
Weltmeisterschaft fand
1930 statt. Viele Sportarten
hatten 1911 bereits ihre
Daseinsberechtigung und enorme,
öffentliche Aufmerksamkeit. Da war die
Rallye Monte Carlo, die man heute als
die „Mutter“ jeglichen Rallyesports
bezeichnet. Die Erst-Austragung fand
1911 statt. Man nannte sie Sternfahrt.
Eigentlich sollte sie vor allem
Wintersportgäste nach Monaco bringen.
Von Genf, Paris, Boulogne-sur-Mer,
Berlin,
Wien und Brüssel starteten am
21.
Januar 1911 zwanzig
Rallye-Teilnehmer, die nach und nach in
Monaco eintrafen. Das Automobil hat bis
heute nichts von seiner Faszination
verloren. Als Geburtsstunde des modernen
Autos gilt übrigens das Jahr 1886, als
Carl Benz seine Entwicklung patentieren
ließ. Der alltägliche Verkehr auf den
Straßen hatte sich ausgeweitet. In
Berlin war schon die Rede davon, dass es
Probleme gäbe bei der wachsenden
Straßenbenutzung durch Wagen aller Art.
Die Eisenbahn hatte inzwischen auch in
den meisten Ländern Europas Verbindungen
zwischen den Städten ermöglicht. Die
Höchstgeschwindigkeit auf den Schienen
lag schon bei fast 100 km/h. Die Autos
mussten sich mit einer
Höchstgeschwindigkeit von 24 km/h
begnügen. Nur so konnten Pferdewagen,
Kraftomnibusse, Stadtbahnen und Autos
miteinander bestehen.
Große Kreise zog auch eine Sportart,
deren Weltmeisterschaft erstmalig
1896
in Sankt Petersburg stattgefunden hatte:
der Eiskunstlauf. Im Januar 1911 war
Wien für Damen und Paare der
Austragungsort. Die Herrenkonkurrenz
fand im Februar in Berlin statt. Zwei
Herren, die jeweils eine Medaille
holten, sind heute noch bekannt. Ulrich
Salchow, zehnfacher Weltmeister und
Werner Rittberger, der dreimalige
Vizeweltmeister, leben namentlich in den
ihren Sprüngen weiter.
Wer es weniger sportlich, dafür elegant
liebte, der tanzte Tango. Dieser Tanz,
dessen sogenannte internationale
Variante aus dem Tango Argentino
entstanden war, verbreitete sich um 1910
in Europa und zog Paare jeden Alters in
seinen Bann. Zur selben Zeit entstand in
Amerika der Foxtrott, der aber erst um
1920 in Deutschland ankam, dann aber –
wie der Charleston auch – sehr populär
wurde. Und es gab den unverwüstlichen
Walzer, der noch im 21. Jahrhundert
getanzt wird, meistens allerdings von
der älteren Generation.
Es wäre wohl auch nur die ältere
Generation, die einen spektakulären
Raubüberfall vom Hörensagen in
Erinnerung behalten hätte, wäre es nicht
dem deutschen Schriftsteller Carl
Zuckmayer 1931 gelungen, dem Helden in
seiner Tragikomödie ein Denkmal zu
setzen. Die Rede ist vom „Hauptmann von
Köpenick“, der als Friedrich Wilhelm
Voigt im Oktober 1906 in einer
Verkleidung nicht nur die Gutgläubigkeit
einiger Soldaten für sich nutzte,
sondern zudem den Bürgermeister
verhaftete und sich der Stadtkasse
bemächtigte. Damals war Köpenick noch
eine eigenständige Stadt nahe Berlin,
die im Zuge des Groß-Berlin-Gesetzes
erst 1920 ein Ortsteil Berlins wurde.
Die medizinische Grundversorgung der
Bevölkerung war dem Mediziner und
praktischen Hygieniker Rudolf Virchow
ein großes Anliegen. Seinen Bestrebungen
ist es zu verdanken, dass erste
kommunale Krankenhäuser entstanden.
Berlin verdankt dem unermüdlichen
Forscher und Menschenfreund auch seit
1870 eine Kanalisation. England hatte
längst ein Kanalsystem. Das erste auf
dem Festland Europas wurde 1856 in
Hamburg geschaffen. Dass die Berliner
nachzogen, war nur logisch. Rudolf
Virchow kümmerte sich auch um eine
zentrale, saubere Versorgung mit
Trinkwasser. Er dachte komplex und
setzte sich auch bei der besten Lösung
für die Beseitigung des Abwassers durch.
Erste Erfahrungen hatte man andernorts
schon gemacht. Das Verrieseln von
Abwasser auf weiten Flächen außerhalb
der Stadt geht ins Jahr 1901 zurück. So
entstanden die Rieselfelder, eine Art
biologischer Abbau vom Schmutzwasser.
James Hobrecht und
Robert Koch gehörten
ebenfalls zu den führenden Köpfen, mit
denen Virchow diese Maßnahmen
entwickelte. Und Virchow war es, auf
dessen Drängen im Jahr 1900, zwei Jahre
vor seinem Tod, ein offizielles
„Reichsfleischbeschaugesetz“ dafür
sorgte, Epidemien zu verhindern, die
durch parasitäre Fadenwürmer, also durch
Trichinen, entstünden, würde man nicht
das Fleisch nicht kontrollieren. Wie
hätte diesen emsigen Hygieniker der
Gammel-Fleisch-Skandal entsetzt?
Virchow war natürlich nicht der einzige
Mediziner, der der Hygiene so großen
Wert beimaß. Die Bevölkerung konnte an
diesen populären Ereignissen großen
Anteil nehmen. Die Internationale
Hygiene-Ausstellung in Dresden war eine
Veranstaltung, die einen Besucherrekord
verzeichnen konnte. Von Mai bis Oktober
1911 waren 5,2 Millionen Menschen zu
Gast im Bereich Hygiene. Das war ein
echter Meilenstein auf dem Weg in
Richtung Zukunft, denn hier stand
tatsächlich der Mensch im Vordergrund.
Die Idee zu dieser riesigen Ausstellung
hatte Karl August Lingner. Er war ein
visionärer Unternehmer und hatte bereits
1892 in Zusammenarbeit mit dem
Chemie-Professor Richard Seifert, ein
Mundwasser entwickelt, das eine
kosmetische und medizinische Wirkung
aufwies und heute noch als bewährte
Marke existiert: Odol. Ab 1930 stellte
man Odol schon in vielen Ländern her.
Karl August Lingner hatte mit der Idee,
eine Hygieneausstellung zu veranstalten,
einen wesentlichen Beitrag zur
Verbesserung der Sanitäreinrichtungen
geleistet. Seine menschenfreundlichen
Unternehmungen stellten ihn in die
Tradition der Aufklärung nach der
Theorie des Philosophen Immanuel Kant.
So dicht liegen Körper und Geist
beisammen.
Die Frauen in Deutschland – sie hatten
immer noch kein Wahlrecht, aber sie
machten auf sich aufmerksam.
Beispielsweise die Dresdnerin Melli
Beese. Sie erhielt an ihrem 25.
Geburtstag, das war der 13. September
1911, als erste Frau in Deutschland eine
Flugzeugführerlizenz. 1912 gründete sie
ihre eigene Flugschule. Auch an diesem
Vorhaben beteiligte sich der Unternehmer
Karl August Lingner. In
Frankreich
machte im selben Jahr eine Frau
wiederholt Schlagzeilen: die
Wissenschaftlerin Marie Curie. Sie bekam
1911 den Nobelpreis für Chemie. Den
Nobelpreis für Physik hatte sie schon
1903 bekommen.
Ein ganz anderes Ereignis war 1911 die
Eröffnung des St. Pauli-Elbtunnels, der
heute als Alter Elbtunnel mit
Anerkennung betrachtet wird. Er wurde
2007 zum Historischen Wahrzeichen der
Ingenieurskunst in Deutschland und steht
längst unter Denkmalschutz. Damals war
er eine unglaubliche Sensation. Dieser
Alte Elbtunnel, der innerhalb von vier
Jahren erbaut wurde, ist fast 450 Meter
lang und wird immer noch benutzt.
Faszinierend sind die Fahrkörbe, mit
denen die Fahrzeuge in die Schächte
gebracht werden. Zufahrtsrampen gibt es
nicht. Wer sich heute für Technik
interessiert, kommt am Alten Elbtunnel
nicht vorbei. Im Gegenteil, da muss man
durch.
Auch in der Kunst tat sich viel. Die
Künstlervereinigung „Der Blaue Reiter“,
der
Wassily Kandinsky und
Franz Marc
angehörten, konnte am 18. Dezember ihre
erste Ausstellung zeigen. Sie erreichte
eine große Öffentlichkeit und war später
auch in anderen deutschen Städten ein
Besuchermagnet. Dagegen nimmt
sich die
Eröffnung des Münchner Tierparks am
1.
August 1911 etwas bescheiden aus.
Aber er erfreut sich immer noch großer
Beleibtheit und sein Alter sieht man ihm
nicht an.
Während sich das Deutsche Kaiserreich
seiner eigenen Neuerungen erfreute,
stapfte der Norweger Roald Amundsen
durch Eis und Kälte. Er konnte dabei
hinschauen, wohin er wollte, sein Blick
sah immer nur den Norden. So ist das
heute noch am Südpol und der
Polarforscher Roald Amundsen war der
erste Mensch, dem es gelang, den
geografischen Südpol zu erreichen. Das
war am 14. Dezember 1911.
Ob ihn bei seiner Rückkehr geschminkte
Damen begrüßten, ist nicht belegt. Sie
wären bestimmt aufgefallen, zumal die
seit 1828 existierende Parfüm-Firma
Guerlain eine weitreichende, kosmetische
Neuerung auf den Markt gebracht hatte.
Ein Stift aus gefärbtem Rizinusöl mit
Hirschtalg und Bienenwachs, der bei
seiner Erst-Präsentation 1883 auf der
Amsterdamer Weltausstellung noch in
Seidenpapier gewickelt war, war nun von
der Firma Guerlain praktischerweise in
eine Metallhülse gesteckt worden. Die
berühmteste Schauspielerin jener Zeit,
die Französin Sarah Bernard, war von
diesem Stift begeistert und färbte damit
ihre Lippen rot. Seinen Siegeszug trat
der Lippenstift allerdings erst um 1920
an. Gut Ding braucht Weile. Dafür gehört
der Lippenstift noch heute zu den
wichtigsten Utensilien, die man in einer
Damenhandtasche findet. Und zwar
weltweit.
Einer der berühmtesten Komponisten im
Übergang von der Spätromantik zur
Moderne und gleichzeitig einer der
bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit
dirigierte im Februar 1911 in New York
sein letztes Konzert: der Österreicher
Gustav Mahler. Kurze Zeit darauf, am 18.
Mai 1911 starb er in Wien. Seine 9.
Sinfonie wurde erst nach seinem Tod, am
26. Juni 1912, uraufgeführt. Kein
Geringerer als Bruno Walter dirigierte
die Wiener Aufführung.
Es tat sich viel in der Welt der Kunst.
Die Auseinandersetzung mit den
Gegebenheiten der Zeit war eine ernste
Sache und eine breite Öffentlichkeit
interessierte sich für Politik und ihre
Umsetzung in der Kunst. Und um den
Buchverkauf attraktiver zu machen, gab
1911 der Insel-Verlag, geführt von Anton
Kippenberg, die Reihe „Bibliothek der
Romane“ heraus. Ein Buch kostete drei
Mark. Schon am 23. Mai 1912 ging es
weiter mit der Reihe „Insel-Bücherei“.
Der erste Band dieser Reihe war die
Prosadichtung von Rainer Maria Rilke
„Die Weise von Liebe und Tod des Cornets
Christoph Rilke“. Der Insel-Verlag, der
bereits 1901 entstanden war, ist noch
heute einer der bedeutendsten
Literaturverlage Deutschlands.
Es wird von einem heißen Sommer im Jahre
1911 berichtet, der in den Schulen für
Unterrichtsausfall sorgte und Missernten
zur Folge hatte. Die Lebensmittel
verteuerten sich und eine Sitzung des
Preußischen Abgeordnetenhauses musste
vertagt werden. Der Tod Konrad Dudens
war gewiss keine Folge der großen Hitze.
Immerhin war der Begründer einer
einheitlichen deutschen Rechtschreibung
bereits 82 Jahre alt, als er am 1.
August 1911 starb. Sein Name ist bis
heute jedem vertraut und bei den meisten
Menschen steht er als „der Duden“ im
Bücherregal. Ob er mit der neuen
deutschen Rechtschreibung einverstanden
wäre?
Ein Sommertag wurde zum Geburtstag des
bedeutendsten deutschen
Theaterkritikers, der am 24. August 1911
zur Welt kam. Friedrich Lufts
sprachliche Gewandtheit, seine
Fachkenntnis und sein erbarmungsloses
Formulieren wurden gefürchtet und
geliebt, aber immer beachtet. Er starb
1990. Seit 1992 wird jährlich der
Friedrich-Luft-Preis verliehen und zwar
an die beste Berliner
Theater-Aufführung, wobei nicht davon
ausgegangen werden darf, dass die
Meinung der Jury zwangsläufig mit der
Meinung des einstigen Kritikers
übereinstimmen würde.
In Raiding, einem kleinen Dorf im
heutigen österreichischen Burgenland,
ließ man es sich nicht nehmen, an den
großen Sohn der Gemeinde zu erinnern,
der 1911 sein 100. Geburtstags-Jubiläum
gehabt hätte, wäre er nicht schon am 31.
Juli 1886 in Bayreuth gestorben: Franz
Liszt, Komponist und bedeutendster
Klaviervirtuose Europas im 19.
Jahrhundert. Ihm zu Ehren richtete der
Raidinger Pfarrer liebevoll ein
Liszt-Museum ein.
Keines dieser Ereignisse erhitzte die
Gemüter so sehr, dass es sogar den
Vatikan aus der Ruhe brachte. Welches?
Die Hose für die Frau! Dabei handelte es
sich gar nicht um eine Glaubensfrage.
Sei’s drum. Die Damenhose gibt es
natürlich heute noch. Niemand regt sich
darüber auf. Nur wenn sie ein paar
Zentimeter zu eng sitzt, ist das Gezeter
groß. Dabei liegt das keinesfalls am
Kleidungsstück.
Die rasante industrielle Entwicklung der
letzten Jahrzehnte machte Undenkbares
denkbar. Und wenn schon fast jeder Ort
auf der Welt erreichbar war, durfte auch
der Reisekomfort nicht nachstehen. Neue
Maßstäbe setzte die „Titanic“, die zu
jener Zeit nicht nur den besten Komfort
bot, sondern auch das größte
Passagierschiff der Welt war. Sie wurde
am 2. April 1912 in Dienst gestellt,
lichtete die Anker und zwölf Tage später
wurde der Luxusdampfer von einem Eisberg
gerammt. Viel Komfort war nicht
gleichbedeutend mit einer ausreichenden
Anzahl von Rettungsbooten. Innerhalb von
zweieinhalb Stunden sank das Schiff.
Ungefähr 1500 Menschen starben. Etwa 700
Menschen überlebten die Katastrophe. Ob
sie sich später an den Komfort oder an
den spektakulären Untergang erinnerten;
wer weiß das schon?
Es wusste auch niemand, wohin das
Jahrhundert noch steuern und auf welche
Eisberge es stoßen sollte. Dass es
spannend und gefährlich zugleich begann,
war unübersehbar, denn am schnellsten
wuchs die Rüstungsindustrie.
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