Literaturjahr 1906
Literatur in Deutschland
Die Naturgewalten meldeten sich 1906 mit großer
Vehemenz. In San Francisco tötete ein Erbeben
dreitausend Menschen, in Chile zwanzigtausend. Eine
mächtige Flutwelle riss in Honkong zehntausend
Menschen in den Tod.
Die Missstände im eigenen Land wollte Präsident
Roosevelt gerne übersehen, dagegen war seine
Vermittlung zwischen Russland und Japan
ausschlaggebend für den Frieden von Portsmouth, so
dass Roosevelt 1906 den Friedensnobelpreis erhielt.
In Russland versuchte Zar Nikolaus II. sich gegen
die revolutionären Aktivitäten zu Wehr zu setzen und
schränkte die Machtbefugnisse der Duma erheblich
ein, was zur Auflösung des Parlaments führte.
In Frankreich wiederum wurde Alfred Dreyfus, für den
sich Émile Zola und viele andere eingesetzt hatten
und der unschuldig in Haft saß, nach zwölf Jahren
Gefängnis rehabilitiert und wieder auf freien Fuß
gesetzt.
Die Inspiration für seinen Roman „Der Hauptmann von
Köpenick“ schöpfte der Dramatiker Carl Zuckmayer aus
einer wahren Begebenheit, die 1906 stattgefunden
hatte. Der Schuhmacher Friedrich W. Voigt besetzte,
verkleidet als Preußischer Hauptmann, mit einem
Trupp Soldaten, die er mit einem getürkten Befehl zu
diesem Kommando verleitete, in der Stadt Cöpenick
das dortige Rathaus, raubte die Stadtkasse aus und
nahm den Bürgermeister in Gewahrsam. Danach ließ er
die Soldaten noch eine Weile Wache schieben, während
er selbst verschwand und erst zehn Tage später
verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt
werden konnte. Das Spektakel erregte nicht nur zur
damaligen Zeit großes Aufsehen, sondern bildete auch
den Stoff für zahlreiche literarische Umsetzungen.
Von
Hermann Hesse erschien 1906 die Erzählung
„Unterm Rad“, in der sich der Schriftsteller mit dem
Scheitern einer Jugend und der pädagogischen Aufgabe
auseinandersetzte. Hesse, selbst in jungen Jahren
bereits stark von Depressionen geplagt, so dass er
sogar versuchte, Selbstmord zu begehen und darum
eine Zeitlang in einer psychiatrischen Klinik
untergebracht wurde, von wo aus er böse Briefe an
seine Eltern schrieb, kritisierte das Schulwesen als
eine Anstalt, in der die Natürlichkeit des Kindes
bzw. Menschen zerbrechen musste, da sie dort
gewaltsam eingeschränkt und „gereinigt“ wurde. Das
Wissen wurde eingepaukt, ohne die Liebe dafür wecken
zu wollen. Hesses Protagonist kommt demnach,
wortwörtlich und dem Titel nach entsprechend, unter
die Räder.
John Galsworthy veröffentlichte sein Werk „Die
Forsyte-Saga“, eine Trilogie, die gleichzeitig auch
als sein „Opus Magnum“ gilt, für die er später mit
dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. 1906
erschien der erste Romanteil mit dem Titel „Ein
reicher Mann“.
Die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf ließ
ihren Roman „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch
Schweden“ in Druck geben. Dieser sollte ihre
Heimatverbundenheit verdeutlichen, sich gleichzeitig
mit den Problemen und der Schönheit ihres Landes
auseinandersetzen, so plädierte Lagerlöf u. a. auch
für den Fortschritt und setzte Hoffnung in die
Industrialisierung. Das damals vollkommen Neue an
einem solchen Roman war die Sicht des Kindes als die
Hauptperson und die von Lagerlöf explizit einfache
Sprache, mit der sie diese Welt beschrieb.
Aufsehen erregte in Wien wiederum ein Roman, der in
den Bereich der erotischen Literatur fiel, anonym
erschien, jedoch vermutlich aus der Hand des
Schriftstellers Erik Salten stammte. Natürlich
konnte der Roman die Zensur 1906 nur umgehen, da er
auf Subskriptionsbasis und als Bericht einer Wiener
Prostituierten veröffentlicht wurde. Das Buch lief
als kleinere Auflage unter dem Titel „Josefine
Mutzenbacher“, in dem eine gealterte einstige
Prostituierte ihre Erfahrungen im einschlägig
wienerischen Dialekt schildert, der Roman damit zum
Sittenbild der damaligen Zeit geriet. Bis heute
zeigt sich das Buch als jugendgefährdende Schrift,
da Josefine bereits mit vierzehn Jahren die Kunst
der Prostitution beherrscht und ihre Erzählung in
das Alter von fünf Jahren zurückreicht, damit in den
Bereich der Kinderpornografie fällt.
Den Nobelpreis für Literatur erhielt 1906 der
italienische Dichter, Freimaurer und Philosoph
Giosuè Carducci für die „lyrische Ausdruckskraft“
seiner poetischen Werke.
<<
Literatur 1905
|
Literatur 1907 >>