DDR Chronik 1964 - Kritik am Regime wurde nicht geduldet

Das Jahr fing gut an. Für alle DDR-Bürger wurden neue Ausweise ausgegeben. Klar und deutlich war darin in der Rubrik Staatsangehörigkeit „DDR“ vermerkt, nicht „deutsch“, obwohl sich nach nur 15 Jahren des Bestehens der DDR und nach drei Jahren des Bestehens der Mauer, die ja erst 1961 errichtet worden war, wohl kaum ein DDR-Bürger nicht als Deutscher empfand. Doch Deutschland gab halt nicht mehr. Der Zweite Weltkrieg und die siegreichen Alliierten hatten es ermöglicht, dass sich zwei deutsche Staaten entwickelten. Teilweise war das zwingend gewesen, denn zu den alliierten Besatzungsmächten gehörte auch die Sowjetunion, die ihren Teil dazu beigetragen hatte und an deren Richtlinien sich das neue, sozialistische Deutschland, pardon, die DDR, orientierte.
Für die XVIII. Olympischen Sommerspiele, für die Japan der Austragungsort war, wurde noch einmal, aber letztmalig, eine gesamtdeutsche Mannschaft aufgestellt. Hier stand die DDR wieder im Schatten, ging sportlich unter der Bezeichnung Deutschland unter wie schon bei den Spielen zuvor, auch bei den Winterspielen in Innsbruck. Das Nationale Olympische Komitee der DDR war dem NOK aus Westdeutschland nicht ebenbürtig. Es galt noch der Alleinvertretungsanspruch des NOKs im Westen.
Doch eine gemeinsame Mannschaft war ja allemal besser als der Verzicht auf die Teilnahme bei den Olympischen Spielen. Bei den Qualifikationskämpfen um die Startplätze, die zwischen den ost- und westdeutschen Athleten ausgetragen wurden, konnten sich 1964 zum ersten Mal mehr DDR-Sportler qualifizieren als westdeutsche Sportler. So wurde Manfred Ewald (1926-2002), einer der einflussreichsten Sportfunktionäre der DDR, zum Chef der gesamtdeutschen Mannschaft berufen. Bei der Fußballaustragung in Tokio konnte dann die Auswahl der DDR, die für Deutschland spielte, immerhin die Bronzemedaille gewinnen und der Leipziger Fußballer Henning Frenzel (*1942) belegte hierbei mit insgesamt vier Toren den Rang sieben der besten Torschützen.
Im Jahr 1964 präsentierte die DDR einen Kleinroller namens „Schwalbe“. Er ging bereits im Februar in die Serienproduktion und gehörte zur so genannten Vogelserie. Anfangs war er nur mit einer Handschaltung ausgestattet, erst ein Jahr später hatte er dann auch wahlweise eine Fußschaltung. Die Auslieferung der Fahrzeuge ging nur schleppend voran. Immer wieder fehlte es an Material, so dass sie mehrfach gestoppt werden musste. Erst ab April 1964 konnte dann mit einer regelmäßigen Auslieferung begonnen werden. Von Anfang an gab es die „Schwalbe“ vom Typ KR 51 in einem kräftigen Blau, in Tundragrau und in Orange. Die Originale sind heute eine Rarität. Doch wer damals schon mit 60 km/h mobil war, konnte sich glücklich schätzen.
Der Chemiker und Kommunist, der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und einer der bekanntesten Regime-Kritiker der DDR, Robert Havemann (1910-1982), hielt in jenem Jahr 1964 an der Berliner Humboldt-Universität eine Vorlesungsreihe mit dem Thema „Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“. Unter dem Titel „Dialektik ohne Dogma“ war sie in der Bundesrepublik veröffentlicht worden. Zudem erschien dort auch ein kritisches Interview mit Havemann. Die Folge davon war die Einberufung einer außerordentlichen Mitgliederversammlung der SED-Parteiorganisation an der Humboldt-Universität. Kritik vertrug die DDR nicht und so wurde Robert Havemann, Professor für Physikalische Chemie, durch einen Beschluss der Mitgliederversammlung aus der Partei ausgeschlossen. Man warf ihm vor, dass er „unter der Flagge des Kampfes gegen den Dogmatismus von der Linie des Marxismus-Leninismus“ abgewichen sei. Die DDR-Führung, die seit der Gründung des Landes 1949 unter dem Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht (1893-1973) regierte, sah im Fall Havemann einen Verrat an der Sache der Arbeiter- und Bauernmacht, dessen dieser sich schuldig gemacht hatte. Zudem beschloss das Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen der DDR im März 1964, Havemann den Lehrauftrag zu entziehen. In der Begründung war die Rede u. a. von der Verleumdung der Arbeiter- und Bauernmacht und von der Unterstützung der gegen die DDR gerichteten Pläne der Militaristen und Revanchisten. Das Interview, das Havemann bei seiner Vortragsreihe der Zeitung „Hamburger Echo“ gewährt hatte, wurde von ihm zwar nachträglich dementiert, aber er hatte nun den negativen Status eines Regimekritikers. Im Jahr darauf folgte das Berufsverbot, zwei Jahre später der Ausschluss aus der Akademie der Wissenschaften der DDR und letztendlich der Hausarrest.
Kritik gegen den Führungsstil der DDR-Regierung, bzw. gegen deren Kulturpolitik, war 1964 auch auf dem V. Kongress des „Verbandes Bildender Künstler“ zu hören. Der Maler Bernd Heisig (1925-2011), der seit 1961 die Hochschule für Grafik und Buchkunst leitete, wurde als Rektor der Hochschule von seinem Posten abgesetzt, weil er die Ergebnisse des sogenannten „Bitterfelder Weges“ kritisch hinterfragt hatte. Er durfte zwar weiter als Dozent tätig sein, aber man hatte ihn weitestgehend mundtot gemacht.
Das Ulbricht-Regime war dogmatisch und streng, doch bis es zu Fall gebracht wurde, vergingen noch Jahre. Zunächst zeigte das Zentralkomitee der SED auch außenpolitisch Flagge und stellte sich gegen die Spaltungspolitik der chinesischen Führer.
Anfang Mai 1964 hatte die Volkskammer ein neues Jugendschutzgesetz verabschiedet und im selben Monat fand noch einmal ein Deutschlandtreffen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in der Hauptstadt Berlin statt, an dem mehr als eine halbe Million Jugendliche aus beiden deutschen Staaten teilnahmen. Es war das allerletzte seiner Art. Logisch, denn der Austausch zwischen den jungen Leuten hätte auf die Dauer mehr Kritisches hervorgebracht, als es der DDR-Führung willkommen gewesen wäre.
Im Sommer wurden in der DDR die Geldscheine erneuert. Sie hatten nun alle die Bezeichnung „Mark der deutschen Notenbank“. Neu war auch der Wehrdienst, der ohne Waffe zur „Auswahl“ stand. Diese Männer hießen nun Bausoldaten und verrichteten ihren Dienst in den Baueinheiten der Nationalen Volksarmee (NVA). Die Möglichkeit, den Kriegsdienst mit der Waffe auf diese Art zu verweigern, gab es in keinem anderen sozialistischen Land. Allerdings galt der Bausoldaten-Dienst nicht als ziviler Wehrersatzdienst. So tolerant es klingen mag; Tatsache war dennoch, dass eben dieser Dienst durchaus nachteilige Auswirkungen auf die Ausbildungs- und Aufstiegschancen dieser jungen Männer haben konnte.
Die DDR grenzte sich auch im Bereich der deutschen Postleitzahlen von der Bundesrepublik ab. Der Beschluss erging im Oktober 1964 und wurde ab dem Januar des Folgejahres in die Praxis umgesetzt.
Auf Regierungsebene, im Bereich der Ministerien, wurde der Vorsitz des Ministerrates mit Willi Stoph (1914-1999) besetzt. Er war damit auch stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates. Sein Vorgänger, Otto Grotewohl (1894-1964), war am 21. September gestorben. Einen Wechsel gab es auch beim „Großen Bruder“. Nikita S. Chruschtschow (1894-1971) wurde entmachtet und durch Leonid Breschnew (1906-1982) ersetzt.
Nach dem gleichnamigen Roman von Christa Wolf (1929-2011), der 1963 erschienen war, hatte der DEFA-Film „Der geteilte Himmel“ Premiere, bei dem Konrad Wolf (1925-1982) Regie führte. Das Parteiorgan der SED, „Neues Deutschland“, fand lobende Worte für den Film mit nur wenigen Einschränkungen. Der „film-dienst“ urteilte 1990, der Film sei ein „inhaltlich und stilistisch außergewöhnlicher DEFA-Film“ und er zeige eine „in ihrer Art einmalige Spiegelung des Lebensgefühls und des neuen Selbstbewusstseins der Ulbricht-Ära“. Andere Stimmen benannten den Film „einen Mauerfilm, in dem das Bauwerk nicht vorkommt und doch ins Unendliche ragt.“ Dass er 1991 auf der Berlinale noch einmal gezeigt wurde, spricht dennoch für die filmische Qualität, die großartige Besetzung und die Bemühung, eine schwierige Situation künstlerisch umzusetzen.
Neue Bauwerke wurden 1964 auch eingeweiht. So wurde beispielsweise das Staatsratsgebäude am Berliner Marx-Engels-Platz offiziell übergeben, wenn es auch noch nicht bezugsfertig war. Eile mit Weile. Auch das Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz und die Kongresshalle wurden eingeweiht.
Im September jenes Jahres hatte der Ministerrat beschlossen, dass DDR-Rentner einmal im Jahr „rüber“ fahren durften. Für die Besucher aus dem Westen, die in die DDR kamen, wurde ein Mindestpflichtumtausch von 5 DM pro Person und Tag zum Kurs von 1:1 erhoben. Da wusste die DDR schon in den Anfangsjahren, wo Geld zu holen war. Denn Besucher gab es in großer Zahl.
Ein Ereignis, das eine große Gruppe Menschen betraf, gab es im Oktober 1964. Aufgrund einer Amnestie wurden etwa 10.000 kriminelle und politische Häftlinge auf freien Fuß gesetzt. Unter den Amnestierten waren u. a. der Journalist und Philosoph, einer der widersprüchlichsten Intellektuellen der DDR, Wolfgang Harich (1923-1995). Er war seit 1956 inhaftiert gewesen. Auch der ehemalige Außenminister der DDR, Georg Dertinger (1902-1968), der wegen angeblicher Spionage verhaftet worden war, wurde freigelassen.
Der eigens für das Deutschlandtreffen gegründete Jugendsender „DT 64“ spielte Rockmusik zu allem, jedenfalls versuchte er es. Es gab Auflagen und die wurden in den Folgejahren noch weiter verschärft. Dem Freund der Jugend, Walter Ulbricht, gefiel das „Yeah, yeah, yeah“ überhaupt nicht. Ihm gefiel Vieles nicht. Doch er saß am längeren Hebel und so wurde das Land immer mehr in eine Zwangsjacke gepresst.
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