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Literatur 1920 - Nachkriegsliteratur war angesagt

Die deutschsprachige Literaturszene beschäftigte sich 1920 vor allem mit den gesellschaftlichen Umbrüchen und politischen Verwerfungen nach dem Zusammenbruch der Monarchien in Mitteleuropa als Folge des Ersten Weltkriegs. Wirkte die Niederlage von 1918 auf bürgerliche Autoren oft traumatisierend und politisch polarisierend, so wirkte die Epochenwende bei anderen Schriftstellern und Dichtern häufig als Signal für den Aufbau einer experimentierfreudigen Neu-Ordnung.
Zu diesem Lager waren auch die Dichter zu rechnen, die sich in einer viel beachteten 1920 von Kurt Pinthus (1886-1975) herausgegebenen Sammlung expressionistischer Lyrik wiederfanden. Im Werk „Menschheitsdämmerung, Symphonie jüngster Dichtung“, das bald als bedeutendste Anthologie dieses Genres galt, waren Gedichte von Georg Heym, Gottfried Benn, Georg Trakl, Franz Werfel und anderen Lyrikern von Pinthus zusammengestellt worden. Pinthus sah in diesen von emotionaler Radikalität geprägten Gedichten die „Forderung neuer, besserer Menschheit“ nach dem Untergang einer alten, gescheiterten Welt exemplarisch ausgedrückt.
Einen völlig anderen Ansatz vertrat der junge Weltkriegs-Teilnehmer Ernst Jünger (1895-1998) mit dem für die Anfangszeit der Weimarer Republik bei der Ausbildung einer rechten Stahlhelm-Fraktion innerhalb des deutschen Bildungsbürgertums wohl politisch einflussreichsten Belletristik-Werk: dem autobiographischen „In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers“. Die bearbeiteten Tagebuchaufzeichnungen, in denen Jünger seine Erlebnisse aus dem Grabenkrieg thematisierte, fanden wegen ihrer Betonung des rein Soldatischen und dem Fehlen einer Reflexion über Recht oder Unrecht des als eine Art „Läuterung“ überhöhten Kriegs großen Anklang bei Teilen der Leserschaft. Dem in Stil neuer Sachlichkeit im Gegensatz zum gefühlsbetonten Expressionismus nahezu beiläufig Töten und Sterben beschreibenden Jünger-Buch wurde von einigen Kritikern der Vorwurf gemacht, der moralischen Verrohung von Teilen der Jugend Vorschub geleistet zu haben.
Weitere 1920 Aufsehen erregende Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt waren Franz Werfels (1890–1945) Novelle „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ und Alfred Döblins (1878–1957) Geschichtsroman „Wallenstein“. Werfel stellte die gegenseitige Enttäuschung der Generationen exemplarisch am Beispiel der Vater-Sohn-Beziehung in einer österreichischen Offiziersfamilie dar. Der Konflikt eskalierte tragisch zum von Werfel als gerechtfertigt erscheinenden Vatermord. Döblin machte in seinem durch eindringliche Bildsprache und Spannung geprägten Meisterwerk des modernen Romans den Dreißigjährigen Krieg zum Muster für die durch Massenkriege verursachten sittlichen Verwüstungen. Eher heiter, wenn auch mit viel Doppelsinn ging es dagegen bei Joachim Ringelnatz (1883-1934) zu, der 1920 mit seinem Gedichtband „Kuddel Daddeldu oder das schlüpfrige Leid“ für Furore sorgte.
Zu den wichtigsten Werken des Jahres im englischsprachigen Raum zählten Hugh Loftings (1886–1947) noch Generationen später viel gelesene märchenhafte Erzählung für Kinder „Doktor Doolittle und seine Tiere“ („The Story of Dr. Doolittle“). Ein wegen der freizügigen Darstellung zweier anti-konservativer Liebespaare für einen Moralin-Skandal sorgender Aufreger war die Veröffentlichung des von D. H. Lawrence (1885–1930) geschriebenen Romans „Liebende Frauen“ („Women in Love“). Ebenfalls eine große Rolle spielte das erotische Element in dem Bestseller-Roman „Chéri“ der Französin Sidonie Gabrielle Colette (1873–1954), der Beschreibung der Beziehung einer alternden Prostituierten zu ihrem weitaus jüngerem Geliebten.
Zum Klassiker der genauen Beschreibung bürgerlicher Alltagsverhältnisse um 1920 wurde der Roman „Die Hauptstraße“ („Main Street. The Story of Carol Kennicott“) des US-Schriftstellers Sinclair Lewis (1885–1951). Tief in der Vergangenheit, nämlich im nordischen 14. Jahrhundert, siedelte die Norwegerin Sigrid Undset (1882–1949) ihre an die Tradition altisländischer Heldensagas anknüpfende Romantrilogie „Kristin Lavranstochter“ an. Der erste Teil der monumentalen Trilogie erschien 1920 unter dem Titel „Der Kranz“. „Kristin Lavranstochter“ war wesentlich ausschlaggebend für die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Sigrid Undset im Jahr 1928.
1920 wurde diese hohe Ehre sowohl, rückwirkend für 1919, dem Schweizer Carl Spitteler (1845-1924) als auch als Preisträger 1920 den Undset-Landsmann Knut Hamsun (1859-1952) übergeben.

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