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Das Modejahr 1906 Mode – Die Diskretion der Herrenschneider


Es ging hoch her in der Welt. Das deutsch-britische Rüstungswettrennen erreichte eine neue Etappe durch das Auslaufen des derzeit weltgrößten Kriegsschiffes, der „Dreadnought“. Streiks und Arbeitskämpfe um bessere Löhne und kürzere Arbeitszeiten machten der Wirtschaft zu schaffen. Ausnahmereglungen im Kinderschutzgesetz legalisierten Arbeit für Kinder ab 9 Jahren. Die später erst anerkannte Künstlervereinigung „Die Brücke“, die sich dem Expressionismus verschrieben hatte, eröffnete ihre erste Ausstellung, die allerdings kaum beachtet wurde. Ihr erging es wie dem Reformkleid. Doch bei der Reformbekleidung trug die Zähigkeit allmählich erste Früchte. Die neue Pariser Mode, die dem Empire nachgeahmt wurde, war daran nicht unschuldig. Sie wirkte locker und feminin, auch wenn sie längst noch nicht ohne das Korsett auskam. Die Optik war jedoch nicht auf die absolute schlanke Linie ausgerichtet. Ein klares Bekenntnis zur Reformbekleidung war das seitens der Haute Couture nicht.
Die Damen des Bürgertums bevorzugten neben den Kleidern mit schlanker Optik auch die Kostüme, die immer mehr Anhängerinnen gewannen. Diese Veränderung, die schon in den Jahren zuvor begonnen hatte, erforderte nur bedingt Mut, denn unter den schmucken Kostümen trugen Frau unverdrossen das Sans-Ventre-Korsett. En vogue waren diese Kostüme für den Tag mit einem hohen Rock, der unter der Büste endete und mit einem kurzen Bolero getragen wurde. Samtwesten waren ebenso gefragt. Doch auch die langen, mantelähnlichen Jacken waren sehr schick. Das Bequemste an diesen Kostümen war die Weite des Rockes, die die Beine umspielte und mit Verzierungen betont wurde.
In Paris versuchte Paul Poiret die strenge Korsett-Linie und die bequeme Funktionalität der Reformkleidung in Einklang miteinander zu bringen. Vom Empire inspiriert und aus leuchtenden Stoffen gearbeitet, die eine Gruppe Maler bevorzugte – „Les Fauves“, die Wilden – schuf Poiret Kreationen, die sehr gewagt waren. Er hatte sie ohne Korsett kreiert. Es gehörte viel Mut dazu, diese Modelle zu tragen. Die Mode der konservativen Couturiers hatte es deutlich leichter. Für die Reformbekleidung war es ein gelungener Schritt, bis in die Haute Couture vorgedrungen zu sein, wenngleich die herrschaftlichen Damen sich noch längst nicht von der Sans-Ventre-Linie abwenden konnten. Die Intellektuellen unter den Frauen wagten bereits die ersten Versuche und wurden dafür scheel angesehen, während die feine Frau an den Korsett-Kleidern festhielt und tagsüber das Kostüm bevorzugte, das nur mit Schleppe salonfähig war. Die Sommerkleider dieser Linie ließen inzwischen ein wenig Haut sehen. Auch wenn die nur am Arm sichtbar war, musste diese kleine Nacktheit dennoch verdeckt werden. Hier kamen lange Handschuhe zum Einsatz.
Hut und Sonnenschirm gehörten nach vor unbedingt zur kompletten Garderobe der gut gekleideten Frau. Am Abend durfte die üppige Eleganz sich in grenzenloser Pracht zeigen. Schwarz-weiße Streifen im Chiffon, Seidenstoffe oder Kleider, die vollends aus Spitze gefertigt waren, gehörten zu den absoluten Favoriten der Abendgarderobe, wobei kein Kleid dem anderen ähnelte, sah man einmal von der Schnittform ab. Modern waren auch Röcke, die den Kleiderunterteilen ähnelten und mit einer besonders edlen Bluse getragen wurden. Seide und Spitze, gemusterte Atlasstoffe und Tüll waren sehr beliebt. Auch hier gab es für die Fantasie beim Zusammensetzen verschiedener Materialien keine Grenzen.
Was für die Damenmode Paris war, war für die elegante Herrenmode Großbritannien. Der moderne Mann, so er aus gut situierten Kreisen kam, musste zu jeder Gelegenheit richtig angezogen sein. Die Etikette war streng, doch Mann kannte sich aus. Er hatte die Wahl zwischen einem Gehrock konservativen Anstrichs, einem Sakko sportlicher Art und dem Cutaway für den Tag. Selbst für den Abend konnte er zwischen dem Smoking oder dem Frack wählen. Was der Anlass erforderte, wusste er. Wer es nicht so genau wusste, wurde von seinem Schneider instruiert. Diskrete, kleine Schriftstücke beinhalteten, welche Kleidung für welchen Anlass angemessen war. Und auch die Accessoires wurden berücksichtigt. Was Mann nicht wusste, erfuhr er von seinem Schneider.
Mit der Mode hatten die Herren kaum Probleme. Ärgerlicher war für die Herren die Einführung der Kraftfahrzeugsteuer. Die gleichzeitige Einführung der Autokennzeichen bereitete ihnen keine Kopfschmerzen. Dass Mann – der in diesem Fall auch für die Frau zur Zahlung verpflichtet war – Geld für den Besitz eines Automobils aufbringen musste, war allerdings ungeheuerlich. Und dass dies nicht nur eine Mode-Erscheinung war, ist heute noch zu spüren.

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