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Literaturjahr 1904 Literatur in Deutschland


1904 erregte die Übersetzung und Erstveröffentlichung der „120 Tage von Sodom“ des berüchtigten Marquis de Sade in Deutschland Aufsehen und Empörung. Herausgebracht wurde das Manuskript von dem jüdischen Arzt und Sexologen Dr. Iwan Bloch, der seinerseits das Pseudonym Eugen Dühren bevorzugte. Das abstruse Werk, das sich wie eine Einkaufsliste an Sex- und Gewalttaten liest, in dem sich vier Libertins auf ein Privatschloss zurückziehen, Mädchen und Jungen entführen lassen und sadistische und sexuelle Handlungen an ihnen begehen, wurde von de Sade bereits 1785 verfasst, als er im Gefängnis saß. Meterlang war die Papierrolle, auf der er seine Fantasien in kleinster Schrift festhielt.
Auch wenn über de Sade viel spekuliert wurde, so war seine sadistische Ader zu Lebzeiten nicht ganz so stark ausgeprägt, wie es den Anschein hatte. Er war ein „geistiger Sadist“, der sich seine Zeit in der Bastille mit derartigen Vorstellungen vertrieb, mitunter wohl auch durch die kalten Mauern seiner Gefängniszelle inspiriert. Neben seinen oftmals sehr gewalttätigen Schriften, gab es auch etliche philosophische Auseinandersetzungen des Marquis' mit dem Sein, dem Menschen und der grausamen Natur, der, so de Sade, der Mensch mit eigener Grausamkeit entgegnen müsse, um in ihr bestehen zu können. In „Die 120 Tage von Sodom“ bezog sich de Sade u. a. auch auf Giovanni Boccaccios „Decamerone“, der dort das adlige Hofleben persiflierte und ein Liebesabenteuer nach dem anderen schilderte. Als Dr. Bloch den Text schließlich gelesen hatte, konnte er Max Harrwitz davon überzeugen, de Sade zu drucken.
Mit dem Roman „Der Seewolf“ schaffte Jack London 1904 seinen Durchbruch als anerkannter Autor. London war sein Leben lang ein mit sich selbst ringender Charakter, der seinen Frust in Alkohol ertränkte und in Hafenkneipen herumhing. Seine Erfahrungen diesbezüglich hielt er in dem Werk „König Alkohol“ fest und reihte sich damit in die Reihe solcher Romane wie die von Malcolm Lowrys „Unter dem Vulkan“ oder „Der Trinker“ von Hans Fallada, letzterer verfilmt mit einem mehr als großartigen Harald Juhnke, der seinerseits das Problem des Alkoholismus nur zu Genüge kannte.
„Der Seewolf“ war, wie London in einem Brief an einen Freund schrieb, inspiriert durch Nietzsche und seinen Übermenschen, allerdings nicht in der Befürwortung, sondern in einer kritischen Auseinandersetzung. Der Protagonist Wolf Larsen wurde von London nach und nach demontiert und musste in seiner Niederträchtigkeit scheitern. London gehörte damit zu einem der vielen Menschen, die Nietzsche falsch interpretiert hatten, den Übermenschen, die Stärke im Menschen der Schwäche gegenübergestellt, als Akt der Grausamkeit empfanden, während im Hintergrund nicht bedacht wurde, dass Nietzsche selbst sehr krank und von starken Schmerzen geplagt war, damit den starken Menschen, seinen Traum vom Übermenschen, vielmehr als unabhängig und selbsterkennend verstehen wollte. Sicherlich ist der schwache Mensch auf Hilfe angewiesen, aber Nietzsche wusste eben, dass dies die Stärke des schwachen Menschen war, der sich auf andere verließ, statt sich aus eigener Kraft über sich selbst zu erheben. Londons Vision des Übermenschen in seiner Figur bewies, dass es dennoch wichtig war, Nächstenliebe zu üben und eine moralische Einstellung zum Leben und zum Menschen zu bewahren. Sein Buch wurde sofort ein Bestseller und ist bis heute ein gern gelesener Abenteuerroman, der ähnlich, wie Herman Melvilles „Moby Dick“, mehr Philosophie beinhaltete, als auf den ersten Blick erscheinen mochte.
Hermann Hesse veröffentlichte 1904 seinen Roman „Peter Camenzind“. Tatsächlich trug dieser Roman dazu bei, Hesse bekannt zu machen. Hesse war immer auf der Suche nach der eigenen Identität des Menschen, sowohl körperlicher als auch geistiger Natur, der sich einer Zivilisation gegenübergestellt sah, die ihn bezwingen wollte, so dass er genötigt war, eine innere Reise zu starten und zu sich selbst zu finden. Es war kein Wunder, dass es Hesse in vielerlei Hinsicht auch zum Buddhismus zog. Schon in seinem ersten Roman erinnerte der Ich-Erzähler stark an die Themen, die er später ausführlicher in „Siddhartha“, im „Steppenwolf“ oder auch in „Narziß und Goldmund“ behandelte und die in seinem letzten Werk „Das Glasperlenspiel“ ihren Höhepunkt fanden.
Von Joseph Conrad kam „Nostromo“ heraus, ein weiteres seiner bekanntesten Werke, und der Literaturnobelpreis ging dieses Jahr an den Franzosen Frédéric Mistral, Dichter und Linguist, zur Ehrung seines Wörterbuchs der provenzalischen Sprache. Neben seinen zahlreichen Romanen engagierte sich Mistral auch politisch, war der führende Kopf und Initiator der Félibige-Vereinigung, deren Mitglieder und Schriftsteller für die Wiedergeburt einer provenzalischen Kultur und einer südfranzösischen Autonomie plädierten.

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